Das Phänomen cheng-zhong-cun

Mit sehr viel Liebe zum Detail und dank einem feinen Gespür für Materialien und Raumproportionen ist es ­Neri&Hu gelungen, ein ehemaliges Wohnhaus im Herzen des chinesischen Nantou City in ein einladendes und sich zum Straßenraum hin öffnendes Gästehaus samt Restaurant und Rooftop Bar zu verwandeln, dessen Innenleben geprägt ist von den bestehenden rohen Strukturen und einer Schichtung von verschiedenen Ebenen.

Das Phänomen cheng-zhong-cun

Mit sehr viel Liebe zum Detail und dank einem feinen Gespür für Materialien und Raumproportionen ist es ­Neri&Hu gelungen, ein ehemaliges Wohnhaus im Herzen des chinesischen Nantou City in ein einladendes und sich zum Straßenraum hin öffnendes Gästehaus samt Restaurant und Rooftop Bar zu verwandeln, dessen Innenleben geprägt ist von den bestehenden rohen Strukturen und einer Schichtung von verschiedenen Ebenen.

 

 

Wenn sich Relikte vorindustrieller Siedlungsstrukturen inmitten einer scheinbar modernen Metro­pole wiederfinden, spricht man in China von „cheng-zhong-cun“ oder einem „Urban Village“. Ein Phänomen, mit dem sich das interdisziplinär agierende Büro für Architektur und Design Neri&Hu Design and Research Office mit Sitz in Shanghai bei dem Projekt Nantou City Guesthouse konfrontiert sah. Das Briefing: Ein ehemaliges Wohngebäude im Herzen von Shenzhen, einer wohlhabenden alten und von einem rasanten Wachstum geprägten Stadt, sollte in ein außergewöhnliches Gästehaus mit elf Zimmern verwandelt werden – umgeben von einem trubeligen Gewirr aus schmalen Wegen, belebten Plätzen und plötzlichen Sackgassen.

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Inspiriert von dem pulsierenden Leben in den Gassen von Nantou City entwickelten Neri&Hu eine Designstrategie, die den dörflichen Charakter der Umgebung auch im Gästehaus selbst spürbar machen sollte. Ein Kunstgriff: „urbane Einschnitte“, die einen neuen öffentlichen Raum im Inneren des zuvor privaten Wohnblocks schaffen und einen konkreten Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglichen. Das Thema der Schichten und Ebenen spielt – auch im Hinblick auf vorgefundene archäologische Relikte – dabei eine besonders tragende Rolle und sorgt für ein scheinbares Verwischen zwischen Innen- und Außen-, privatem und öffentlichem Raum.

 

 

„Anstatt die Historie nur mittels oberflächlichen materiellen Effekten zu imitieren, versucht das Projekt, die Möglichkeiten einer bestimmten Art von Vergangenheit auszuloten, die unsere heutige Kultur beleben könnte“, so die Architekten, die im Rahmen des Entwurfs eine eigene tektonische Sprache entwickelten, die sich in einer leichten, membranartigen Verkleidung als Hauptelement der Fassade sowie schwereren, die Skyline kontrastierenden Monolithen artikuliert. Das über dem Gebäude schwebende neue Flachdach mit öffentlicher Terrasse eröffnet ein sich stetig wandelndes Panorama auf das Straßenleben tief unten sowie die behelfsmäßigen Gärten und Gemüsefarmen entlang der zerklüfteten Skyline der Stadt und spielt in der Gestaltung der Aufbauten mit einer landestypischen Form von „Dachparasiten“, die bei den raumbedürftigen Bewohnern der Dachgeschosse äußerst begehrt sind. Es verbindet aber auch das Straßengewirr der Stadt mit dem Luftraum über Nantou und eröffnet somit eine neue (Erzähl-)Ebene für den Betrachter.

 

 

Als eine Interpretation der für Nantou typischen organischen Bewegungsmuster der Bewohner, sind der Zugang und die öffentlichen Bereiche des Gästehauses so konzipiert, dass sie in das Netz der verschlungenen Gassen vor Ort eingebunden sind und einer Einladung von Nachbarn und Freunden in das private Heim gleichen. Diese Geste der Öffnung verlagert sich im Herz des Gebäudes entlang eines bestehenden Treppenhauses von der Horizontalen in die Vertikale und führt die Besucher vom Restaurant über die Gästezimmer bis hinauf zu den öffentlich zugänglichen Dachgärten. Einmal im Inneren angekommen prallen Alt und Neu in jeder Ecke und jedem Winkel gezielt aufeinander – eine Ode an die Ruinen der Vergangenheit und eine Feier des heutigen Lebens.

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„Einschnitte bedeuten nicht unbedingt, etwas zu zerstören, sie können auch Neues schaffen – in diesem Fall Raum und Bedeutung“, erklären die Architekten den Schritt, die Urbanität bewusst in das Gebäude miteinzubeziehen, „das wiederum macht seine private Geschichte erst lesbar, das Bauwerk wird vollständig in die Gezeiten der Stadt integriert und öffnet ein neues Portal sowohl in die Vergangenheit als auch in die alltägliche und doch einmalige Gegenwart.“

 

 

Dieses Ansinnen spiegelt sich auch in der Wahl der Materialien und Oberflächen wider: Die Außenhaut ist geprägt von einem Neben- und Miteinander aus Ortbeton, witterungsbeständigem Stahl, gewellten und perforierten Edelstahlblechen, Marmor sowie Klarglas – Materialien, die sich allesamt im Innenraum wiederholen, wo sie noch durch Strukturglas, Terrazzo, Mosaik, Sperrholz und Leinenstoffe ergänzt werden. Was auf den ersten Blick nach viel klingt, ergibt in seiner Gesamtheit vor Ort eine äußerst stimmige, feine und elegante Komposition an Ebenen und Schichten, die von außen wie innen filigran und anmutig erscheint und den perfekten Kontrast zu den bestehenden rohen Betonstrukturen bildet.

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Die Räume sind allesamt in horizontaler wie vertikaler Ebene offen und fließend gestaltet, geben dem Besucher ganz intuitiv den Weg vor und laden zum Eintauchen in Vergangenheit und Gegenwart ein, zum sinnlichen Verweilen ohne einen Gedanken an Raum und Zeit. Das im Erdgeschoss verortete, überhöht ausgebildete Restaurant mit Rezeption ist über zwei sich Über-Eck befindliche Eingänge zugänglich, die sich in ihrer Wichtigkeit in nichts nachstehen und allein dem umgebenden Wegenetz Rechnung tragen. Im ersten Obergeschoss befindet sich ein Separee mit eigener Küche, darüber die Gästezimmer und in der obersten Etage eine Bar mit großzügiger Terrasse sowie den in Metall gehüllten Monolithen, die öffentliche Räume und Servicefunktionen beherbergen.

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Auch die Möbel und Tischlerarbeiten fügen sich in dieses Gesamtkunstwerk nahtlos ein, was sich in kleinen Details manifestiert, die besonders bei den Konstruktionselementen der Holzstühle und Servicemöbel im Restaurant zutage treten. Die in das großzügig geöffnete Treppenauge eingesetzte Stahl­treppe fungiert gleichermaßen als funktionales wie skulpturales Objekt – und wieder treten Alt und Neu in einen sichtbar gewordenen Dialog.

Farbige Nuancen, Holzmöbel, warmes Licht ausstrahlende Akzentleuchten und feine Stoffe sorgen trotz der rohen und harten Oberflächen in den Gästezimmern für eine gemütliche Atmosphäre. Großzügige Fensteröffnungen ermöglichen auch von den Badezimmern aus den direkten Kontakt mit der Außenwelt und eröffnen interessante Blickwinkel auf die Enge des umgebenden „Urban Village“, wobei verschiedene Ebenen an vorgelagerten transparenten Strukturen stets das gewünschte Maß an Privatsphäre garantieren.

 

 

Ohnehin findet jeder Gast im Nantou City Guesthouse trotz der gelebten Offenheit und inszenierten Interaktion auf Wunsch überraschend viel persönlichen Freiraum und private Rückzugsorte – eine Qualität, die paradoxerweise wiederum von der großzügigen Öffnung der Räumlichkeiten herrührt. Ganz im Sinne historischer wie moderner Metropolen, in denen das Leben zwar laut, eng und lustig zugeht, wo aber ein unsichtbares Geflecht aus Strukturen immer wieder unverhoffte Nischen schafft und versteckte Rückzugsorte eröffnet.

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Incision | Nantou City Guesthouse
Nantou City, Shenzhen, China

Bauherr: Shenzhen Vanke Co., Ltd
Planung: Neri&Hu Design and Research Office
Mitarbeiter: Lyndon Neri, Rossana Hu, Chris Chienchuan Chen, Christine Chang, Sanif Xu, Bingxin Yang, Dian Wang, Ningxin Cheng, Peter Ye, Bernardo Taliani de Marchio, Cheng Jia, Xiaotang Tang, Jieqi Li, Pengpeng Zheng, Eric Zhou, Yoki Yu, Zhikang Wang, Tong Shu, Matthew Sung, Kany Liu, July Huang, Lyuqitiao Wang
Statik: West Construction Shenzhen

BGF: 1.370 m2
Projektdauer: 2020 – 2021
Fertigstellung: Dezember 2021

www.neriandhu.com/en

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Chen Hao