Ein Schleier aus Beton

Im französischen Meisenthal verwandelten SO-IL in Kooperation mit FREAKS architecture ein Industriedenkmal in einen blühenden Kulturcampus. Die Interventionen respektieren dabei sowohl die Vergangenheit als auch die Anpassungsfähigkeit an eine dynamische Zukunft und spiegeln die Philosophie der Architekten wider, Lösungen stets an gegebene bauliche wie örtliche Rahmenbedingungen sowie den historischen Kontext anzupassen.

Ein Schleier aus Beton

Im französischen Meisenthal verwandelten SO—IL in Kooperation mit FREAKS architecture ein Industriedenkmal in einen blühenden Kulturcampus. Die Interventionen respektieren dabei sowohl die Vergangenheit als auch die Anpassungsfähigkeit an eine dynamische Zukunft und spiegeln die Philosophie der Architekten wider, Lösungen stets an gegebene bauliche wie örtliche Rahmenbedingungen sowie den historischen Kontext anzupassen.

 

 

Unmittelbar an der deutschen Grenze befindet sich in der idyllischen Landschaft des Naturparks Nordvogesen im französischen Kanton Bitche das 600-Seelen-Örtchen Meisenthal. Eine Glashütte Meisenbach wurde bereits 1704 erwähnt, 1711 folgte der Namenswechsel zum heute geläufigen Meisenthal. Bekannte Jugendstil-Künstler wie Émile Gallé fertigten hier noch Ende des 19. Jahrhunderts ausgefallene Glaskunstobjekte. 1969 wurde der Betrieb der Glashütte zwar eingestellt, dennoch kann man auf dem Gelände noch heute Glasbläsern bei der Arbeit zusehen. Denn das alte Industriedenkmal lebt: Neben einem Zentrum für Workshops sowie einem Veranstaltungsort für zeitgenössische Musik findet man vor Ort auch das für den dort hergestellten Christbaumschmuck aus Glas – 2021 wurden 35.000 der begehrten Sammlerstücke verkauft – bekannte Internationale Zentrum für Glaskunst (Centre International d‘Art Verrier, CIAV) sowie ein Glasmuseum.

 

 

Ein Besuch des öffentlich finanzierten Kulturzentrums Site Verrier de Meisenthal lohnt sich nicht nur der bewegten Geschichte und der Glaskunst wegen, auch Architekturbegeisterte erwartet mit dem Ensemble aus Glasmuseum (Musée du Verre et du Cristal), CIAV und Cadhame (Halle Verrière) eine regelrechte Spielwiese zum Bestaunen und Entdecken. Die drei unabhängigen und dennoch miteinander verwobenen Einrichtungen fungieren als eine Art lebendiges Gedächtnis, das die Geschichte des Glases am Standort nachzeichnet. Hier trifft traditionelles Handwerk auf moderne Technik und in dem multidisziplinären Kulturraum finden regelmäßig Kunstinstallationen, Happenings und Konzerte statt, zu denen jährlich mehrere zehntausend Besucher in den kleinen Ort pilgern.

 

 

2022 erfolgte die jüngste „Wiederauferstehung“ des historischen Industrieareals, nachdem das Team SO-IL (New York) / FREAKS (Paris) einen entsprechenden, international ausgeschriebenen Architekturwettbewerb im Jahr 2015 für sich entscheiden konnte. Die Herausforderung: eine Sanierung der Gebäude und die Errichtung eines neuen Konzertsaals inklusive Besucherzentrum, Boutique, Café und neuem Verwaltungsgebäude. In diesem Zusammenhang wurden bestehende Gebäudefunktionen umgestaltet und erweitert: So erhielt die Fabrikhalle einen neuen Eingang in einem bisher ungenutzten Kellergeschoss und einen Theatersaal, dessen 500 Sitzplätze sich zum einen in 700 Stehplätze oder zum anderen in einen Konzertsaal mit 3.000 Plätzen verwandeln lassen.

 

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Die bereits vorhandenen Gebäude stammen aus sehr unterschiedlichen Epochen und stehen zum Teil unter Denkmalschutz. Daher bestand das oberste Ziel der Architekten darin, dem Bestand mit höchstem Respekt zu begegnen und dabei gleichzeitig dem gesamten Gelände eine neue Dynamik zu verleihen, um das Centre International d‘Art Verrier in das 21. Jahrhundert zu katapultieren. Die Lösung ist eine wellenförmige Oberfläche aus Ortbeton, die gleichzeitig als Dach, Decke und Wand fungiert und die zahlreichen Höhenunterschiede zwischen den Gebäuden geschickt nutzt, um die Topographie des Geländes neu zu interpretieren.

 

 

Gleich einem Schleier überzieht der neu geschaffene öffentliche Raum das Gelände und ermöglicht es dabei auf geschickte Weise, alle Gebäudeteile fließend miteinander zu verbinden. In der Mitte entstand so, wie selbstverständlich, ein großer, identitätsstiftender Platz, der zukünftig für poetische Veranstaltungen, Freiluftausstellungen, Glasbläsereivorführungen und mehr dergleichen genutzt werden soll. Die begehbare Betonskulptur darf aber nicht nur als Anspielung auf die Glasproduktion verstanden werden, darunter und darüber entstand außerdem auf sensible Weise viel Raum für neue Funktionsflächen wie Büros, Werkstattbereiche, ein Café und ein Restaurant. Der neue öffentliche Raum soll außerdem das bürgerliche Bewusstsein für diesen historischen Ort stärken und dazu einladen, physisch mit ihm in Kontakt zu treten.

 

 

Das Material Beton erwies sich – wie so oft, wenn Alt und Neu aufeinandertreffen, – als stilistisch und ästhetisch hervorragende Wahl. Der Kontrast zu den roten Backsteinen der historischen Gebäudeteile grenzt – auch im Innenraum – Bestand und Ergänzungen klar ablesbar voneinander ab. Die glatten, zurückhaltenden Betonoberflächen bringen die Rauheit und haptische Materialität der natürlich gealterten Oberflächen hervorragend zur Geltung, lassen diese strahlen, wo es Sinn macht, und zeigen sich an anderer Stelle als selbstbewusste Boten einer neuen Ära. Dabei gibt es kein Gegeneinander, kein Nebeneinander, nur ein harmonisches Miteinander im Sinne des großen Ganzen.

 

 

Ohnehin ist das Gelände als – wenn auch optisch einnehmende, so doch äußerst funktionale – Hülle gestaltet ganz im Sinne und Dienste der vor Ort stattfindenden Veranstaltungen: so wie die Fabrik einst praktischer Arbeitsplatz für die Glaskünstler ihrer Zeit war. Einzelne Elemente wie eine expressive Wendeltreppe aus Beton, großformatige Fensteröffnungen oder eigens gestaltete Möbelobjekte setzen gezielt Akzente, ohne dabei laut zu sein. Es sind die Feinheiten, Nuancen, augenzwinkernden Anspielungen, die dieses Projekt so besonders machen. Gleich dem Material Glas, das abhängig von Licht und Stimmung nur als Trägermaterial für die Atmosphäre fungiert, die es dabei dennoch aus dem Nichts zu kreieren scheint…

 

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Site Verrier
Meisenthal, Frankreich

Bauherr: Gemeindeverband Pays de Bitche
Planung: SO—IL
Mitarbeiter: Florian Idenburg, Jing Liu, Ilias Papageorgiou, Lucie Rebeyrol, Ian Ollivier, Seunghyun Kang, Pietro Pagliaro, Danny Duong, Antoine Vacheron
Partner: FREAKS architecture
Mitarbeiter: Yves Pasquet, Cyril Gauthier, Guillaume Aubry, Bertrand Courtot, Axel Simon

Projektmanager: LFA
Statik: MHI
Szenographie: dUCKS
Museographie: Designers Unit
Kostenvoranschlag: MDETC
Akustik: Peutz
Planungsleitung: C2Bi

Grundstücksfläche: 6.500 m2
Fertigstellung: 2022

www.so-il.org

 

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Iwan Baan