Menschliche Bedürfnisse erkennen und nutzen

Interview: Alexandra Abel ist Lehrbeauftragte für Architekturpsychologie an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Schwerpunkte sind Architekturwahrnehmung, Architekturvermittlung, Architektur und Gesundheit sowie bedürfnisorientierte Architektur. Im Interview erläutert die promovierte Diplom-Psychologin, welches Potenzial in der Auseinandersetzung mit den menschlichen Bedürfnissen steckt und wie diese Auseinandersetzung zu einer möglichst demokratischen Wertung und Gestaltung von Architektur führen kann. Anhand von Beispielen macht sie außerdem klar, dass es sich dabei nicht nur um eine theoretische Diskussion handelt, sondern um einen Ansatz, der auch in der Praxis besteht.

Menschliche Bedürfnisse erkennen und nutzen

Alexandra Abel ist Lehrbeauftragte für Architekturpsychologie an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Schwerpunkte sind Architekturwahrnehmung, Architekturvermittlung, Architektur und Gesundheit sowie bedürfnisorientierte Architektur. Im Interview erläutert die promovierte Diplom-Psychologin, welches Potenzial in der Auseinandersetzung mit den menschlichen Bedürfnissen steckt und wie diese Auseinandersetzung zu einer möglichst demokratischen Wertung und Gestaltung von Architektur führen kann. Anhand von Beispielen macht sie außerdem klar, dass es sich dabei nicht nur um eine theoretische Diskussion handelt, sondern um einen Ansatz, der auch in der Praxis besteht.

 

Architekturpsychologin Alexandra Abel

 

Wie beschreiben Sie Ihren Beruf jemandem, der noch nie von Architekturpsychologie gehört hat?

Ein Studierender stellte mir einmal dieselbe Frage und wollte wissen, ob man in der Architekturpsychologie Häuser therapiert. Es geht aber natürlich nicht um krumme Häuser, die auf der Freud’schen Liege psychoanalytisch betreut werden. Als Architekturpsycholog:in beschäftigt man sich mit der Mensch-Umwelt-Interaktion – sowohl unter dem Fokus der gebauten als auch der vom Menschen beeinflussten Umwelt. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil sich gebaute Umwelt auf Bauprozesse beschränkt. Tatsächlich widmet man sich aber auch der menschlichen Einflussnahme auf die Umgebung. Meiner Meinung nach bedarf es in der Architekturpsychologie stets einer Intention. Sie besteht für mich in der Optimierung dieser Interaktion zwischen Mensch und Umwelt, die im Wesentlichen dazu dient, das menschliche Wohlbefinden und das des gesamten Ökosystems zu fördern.

Woher kommt Ihr Interesse für die Architektur – warum haben Sie sich für diesen Bereich der Psychologie entschieden?

Mein Kontakt mit der Architektur ist ein lebenslänglicher. Da mein Vater selbstständiger Architekt war, wuchs ich mit dem Geruch von Modellen auf und lernte unter einem Eiermann-Schreibtisch das Stehen. Bei Wanderungen half ich beim Sammeln von Modellbaumaterial und hatte bereits als Kleinkind unzählige Baudenkmäler besucht. Was mich dabei sehr prägte, war die reale Ebene der Architektur – der Kontakt meines Vaters mit Auftraggeber:innen und Handwerker:innen. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass diese Kommunikation zwischen Architekt:innen und Nicht-Architekt:innen manchmal schwierig ist. Dadurch erkannte ich jenseits von Ästhetik, Stilkunde und Konstruktion eine Ebene, die sich mit unserem Erleben und Verhalten beschäftigt und die ich als Psychologin zur Architektur beitragen kann.

Welches Wissen vermitteln Sie künftigen Architekt:innen im Zuge Ihrer Lehrtätigkeit?

Architekturpsychologie ließe sich im Kontext der Umweltpsychologie auch bei den Psycholog:innen lehren, ich lehre sie aber bei den Architekt:Innen und Gestalter:innen. Eine – wie ich finde sehr demokratische – Hauptannäherung an die Qualität von Architektur stellt dabei die Wahrnehmung dar. Sie unterscheidet beim Versuch, die Architektur zu verstehen, zu beurteilen und letztlich auch zu werten, weniger zwischen den (künftigen) Expert:innen und den Nicht-Expert:innen. Neben der Architekturwahrnehmung bilden die Themen Architektur und Gesundheit, sowie die bedürfnisorientierte Architektur weitere Schwerpunkte meiner Arbeit.

 

Die bedürfnisorientierte Architektur beschäftigt sich mit Grund­bedürfnissen, die für unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität essenziell sind.
Wie wollen wir leben? Die bedürfnisorientierte Architektur beschäftigt sich mit Grund­bedürfnissen, die für unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität essenziell sind.

 

Was verstehen Sie unter „bedürfnisorientierter Architektur“ genau?

Ich finde die Annäherung über die menschlichen Bedürfnisse an die Architektur sehr relevant und denke, dass es sich dabei um eine zentrale Debatte in unserer Gesellschaft handelt. Am Anfang dieser Diskussion muss eine Sensibilisierung für jene Bedürfnisse stehen, die für unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität essenziell sind – und für jene, auf die wir verzichten können. Diese Unterscheidung ist auch im Kontext von Nachhaltigkeit, Klimaneutralität oder generell unserem qualitativen Fortbestehen als Menschheit wichtig.

Fehlt das Bewusstsein für diese Bedürfnisse bzw. wird der Fokus oft falsch gesetzt?

Ich kann das nicht allgemein beurteilen, meine aber, tendenziell ja. Besonders spannend ist, dass Menschen Lebensqualität oft von sich aus über diese wesentlichen Bedürfnisse definieren, anstatt über Luxus, Prestige oder Erfolg. So zeichnet es sich beispielsweise in einer Studie über Lebensqualität und Architektur ab, die ich gerade zusammen mit einem kleinen Team auswerte. Daher denke ich: In einer gesellschaftlichen Debatte würden wir feststellen, dass mit Lebensqualität verbundene Bedürfnisse jene sind, die wir uns auch in der Zukunft erlauben können.

Ein Punkt ist mir an dieser Stelle noch sehr wichtig: Bedürfnisse lassen sich meines Erachtens sehr gut an vulnerablen Gruppen aufzeigen, da diese meist nicht im Stande sind, unerfüllte Bedürfnisse zu kompensieren. In diesem Zusammenhang geht es darum, einen Blick dafür zu entwickeln, wie aneignungsoffen und inklusiv Architektur ist bzw. inwiefern sie die Heterogenität der Menschen berücksichtigt. Bereite ich z.B. den Stadtraum für Menschen mit Demenz vor, können diese auch an ihm teilhaben. Tue ich das nicht, werde ich sie dort auch nicht sehen. Das gleiche gilt für jede Gruppe mit besonderen Bedürfnissen. Gestaltung, Urbanistik und Architektur haben ebenfalls große Relevanz im Kontext von sozioökonomischer Ungerechtigkeit und verlangen deshalb dort ein besonderes Bewusstsein der Gestalter:innen.

Gibt es Maßnahmen, die sich allgemein positiv auf die Wahrnehmung von Bauten auswirken?

Ja, aber es werden nie allgemeine kochbuchartige Empfehlungen sein. Diese werden der Architekturpsychologie nicht gerecht und sind auch mit der Kreativität im Planungsprozess nicht kompatibel. Als Architekturpsycholog:innen können wir allerdings die Bedürfnisse der Menschen und deren Ursprung und Auswirkungen erklären. Viele unserer Bedürfnisse fußen beispielsweise auf unserer evolutionären Herkunft. Ein Beispiel dafür ist die Prospect-Refuge-Theorie (Appleton, 1984), welche besagt, dass Menschen bis heute ein Bedürfnis nach Schutz und Überblick haben – Dinge, die einst essenziell für unser Überleben waren. Mit diesem Wissen lässt sich begründen, warum viele Menschen in Cafés und Restaurants am liebsten mit dem Rücken zur Wand oder in Nischen sitzen. Dieses Phänomen hängt gleichzeitig mit unserem Bedürfnis nach Dosierung sozialer Interaktion zusammen. Wir sind nicht nur gerne vollständig privat oder öffentlich, sondern schätzen insbesondere semi-private bzw. semi-öffentliche Situationen. Beispiele wie dieses zeigen, wie die Architekturpsychologie für Bedürfnisse sensibilisieren kann und sollte. Die Umsetzung dieser Erkenntnis in gebaute Vorschläge liegt dann bei den Architekt:innen und Gestalter:innen.

 

Die Piazza del Campo in Siena befriedigt unser Bedürfnis nach Schutz und Überblick.
Rückzug und Bühne: Die Piazza del Campo in Siena befriedigt unser Bedürfnis nach Schutz und Überblick.

 

Wahrnehmung ist etwas Subjektives, kann man überhaupt objektiv planen?

Wahrnehmung ist zwar sehr subjektiv, unsere Grundbedürfnisse sind es aber nicht. Jeder hat – bedingt durch verschiedene Faktoren – in bestimmten Situationen spezifische Bedürfnisse, grundsätzlich bleiben es trotzdem die gleichen. Schaffe ich eine Architektur, die diese Bedürfnisse abdeckt, tut sie das für alle Menschen, über individuelle Unterschiede hinweg. Ein Bau, der unser Bedürfnis nach Rückzug, Privatheit, semi-privaten Orten für positive soziale Interaktionen etc. berücksichtig, ist auf die persönlichen Befindlichkeiten aller Nutzer:innen vorbereitet.

Stichwort Healing Architecture – welche Aspekte gilt es speziell bei Gesundheitsbauten zu berücksichtigen?

Sehr interessant ist, dass man in diesem Kontext häufig nicht mehr von Krankenhaus-Architektur, sondern von Gesundheitsbauten spricht. Krankheit und Gesundheit werden unterschiedlich definiert und die Begriffe geben auch einen anderen Anspruch vor. In dem Zusammenhang schätze ich die Definition der WHO sehr, die seit der Gründung 1946 nie geändert wurde: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Dabei handelt es sich natürlich um eine Vision, die aber wiederum eine Richtung vorgeben kann. Architektur und Gestaltung haben die Möglichkeit, Patient:innen Wertschätzung zu vermitteln und sich um die geistige, körperliche und soziale Gesundheit zu kümmern. Das bedeutet z.B. sozialen Rückhalt in Form von Begleitpersonen vorzusehen – nicht nur bei Kindern, sondern auch im Kontext von erwachsenen Patient:innen. In den Maggie’s Centres schafft man bewusst einen Ort der entspannten Begegnung und fördert so den Kontakt der Patient:innen untereinander. Gebauter Raum kann menschliches Erleben und Verhalten ermöglichen oder aber auch erschweren bzw. verhindern.

Denken Sie generell, dass dem Thema genug Beachtung geschenkt wird? Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?

Ich denke, wir sollten uns mehr mit den menschlichen Grundbedürfnissen, unserem Verhalten und unserer Wahrnehmung auseinandersetzen. Mittlerweile gibt es bei vielen Planungsprozessen – insbesondere im Kontext der Gesundheitsarchitektur – interdisziplinäre Vorphasen, die auch partizipative Elemente miteinbeziehen. Beispiele dafür sind das Prinses Maxima Centrum für Pädiatrische Onkologie in Utrecht (LIAG architekten + baumanagement) mit der von Kopvol architecture & psychology (Gemma Koppen & Prof. Dr. Tanja C. Vollmer) entwickelten neuen Typologie für Eltern-Kind-Zimmer. Oder die Soteria im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin: Die Station für junge Menschen mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis wurde vom Psychiater Dr. Martin Voss und dem Architekten Jason Danziger (thinkbuild architecture) gemeinsam entworfen – auf der Basis von vielen Vorgesprächen mit den späteren Nutzer:innen. Projekte dieser Art würde ich mir mehr wünschen.

www.architekturpsychologie.online

 

 

Interview: Edina Obermoser
Fotos: Stephan Ernst