Veränderte Straßen für lebenswerte Städte

Interview - Das Forschungsprojekt Avenue21 der TU Wien erforscht die Entwicklungen des Verkehrs und der Mobilität in den urbanen Räumen Europas. Der Architekturtheoretiker Dr. Mathias Mitteregger leitete dieses über vier Jahre andauernde Projekt. Für ihn steht der Wandel, hin zum automatisierten und vernetzten Fahren, unmittelbar bevor. Dieser soll genutzt werden, um die Städte positiv zu verändern und vor allem dem Straßenraum eine neue Bedeutung zuzuschreiben. Der Beitrag Veränderte Straßen für lebenswerte Städte erschien zuerst auf architektur-online.

Veränderte Straßen für lebenswerte Städte

Das Forschungsprojekt Avenue21 der TU Wien erforscht die Entwicklungen des Verkehrs und der Mobilität in den urbanen Räumen Europas. Der Architekturtheoretiker Dr. Mathias Mitteregger leitete dieses über vier Jahre andauernde Projekt. Für ihn steht der Wandel, hin zum automatisierten und vernetzten Fahren, unmittelbar bevor. Dieser soll genutzt werden, um die Städte positiv zu verändern und vor allem dem Straßenraum eine neue Bedeutung zuzuschreiben.

 

Architekturtheoretiker Dr. Mathias Mitteregger
© Daniel Trindl

 

Was macht eine Stadt aus?
Durch meinen architekturtheoretischen Hintergrund habe ich einen stark von der Geschichte geprägten Blick darauf. Für mich ist Stadt der Inbegriff des Politischen. Stadt bedeutet Öffentlichkeit und eine arbeitsteilige Gemeinschaft, die auf Dichte und Diversität beruht. Das bringt auch immer ein Konfliktpotenzial mit sich.

Wie sieht der Verkehr der Zukunft aus?
Wie wir uns den Verkehr der Zukunft vorstellen müssen, ist ganz klar davon geprägt, wie wir als globale Gesellschaft auf die Klimakrise reagieren. Der Entscheidungshorizont hat nun deutliche Grenzen. Gerade im Verkehrssektor müssen wir jetzt unverzüglich reagieren. Das ist nicht nur eine Frage der Verkehrsmittel, sondern auch eine entscheidende Frage der Architektur und Raumplanung. Wir müssen also nicht zwingend neue Verkehrsmittel erfinden oder einführen, dazu fehlt uns in vielen Fällen einfach die Zeit. Die Städte und der ländliche Raum müssen so geplant werden, dass wir zuallererst Verkehr vermeiden.

Wie kann Verkehr vermieden werden?
Verkehrsprobleme lösen wir nicht durch den Verkehrssektor alleine, man muss integriert denken. Davon ist die Raumplanung, die Architektur und der Städtebau betroffen. Aber auch viele andere Sektoren, wie mittlerweile die Informatik und Energiewirtschaft. Da muss man bestehende Grenzen einbrechen und in vielen Fällen ganz neu denken. Man vermeidet Verkehr z.B. durch kompakte Städte oder – wie wir jetzt gerade erleben – durch virtuelle Treffen. Wobei hier die CO2-Bilanz unklar ist und das nicht für alle Berufsgruppen ein gangbarer Weg ist.

Wie wird sich die Mobilität verändern?
Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Mobilitätswende und auch für lebenswerte Städte ist meiner Ansicht nach der öffentliche Raum der Straße. Wir müssen uns dabei ihre historische Entwicklung präsent halten und sie anders denken. Es war nicht immer so, dass Straßen so eindeutig dem Verkehr zugeordnet waren wie heute. Bei der Bedeutung des Straßenraumes als öffentlicher Raum spielen Straßen und auch Plätze eine entscheidende Rolle. Es braucht sie, damit sich eine Öffentlichkeit formieren kann, die sich kennt, sich austauscht, die divers ist und mit sich selbst konfrontiert bleibt. Es geht nicht darum den Zustand vor dem Automobil zu rekonstruieren, sondern darum, neue Straßen zu schaffen, die hochqualitative und großartige Aufenthaltsräume in Städten sein können. Das ist eine unglaublich reizvolle gestalterische Aufgabe.

Wem soll die Straße in Zukunft gehören?
Wir haben immer zwei Nutzungsansprüche an den Straßenraum. Es gibt die Transportnotwendigkeit. Städte müssen versorgt und das Produzierte und Konsumierte muss auch verteilt bzw. entsorgt werden. Auf der anderen Seite steht der Anspruch der Personen, die die Städte bewohnen, dort arbeiten oder dort ihre Freizeit verbringen. Wir brauchen die Straße als Erweiterung des Raums, der uns innerhalb von Gebäuden zur Verfügung steht! Beide Ansprüche müssen berücksichtigt und auch unterschiedlich gewichtet werden. Die Notwendigkeit des Aufenthaltsraumes muss heute viel stärker berücksichtigt werden. Dies ist möglich, wenn wir den Verkehr vermeiden und Fahrten bündeln.

Wie lässt sich das räumlich umsetzen?
Da gibt es ganz interessante Konzepte, wie etwa den Superblock. Es geht dabei darum Quartierszentren zu stärken, indem man den motorisierten Verkehr explizit draußen hält. In der Stadt werden Inseln geschaffen, die sich zu einem Netz verbinden, in dem das lebenswerte Quartier im Zentrum steht. Mobilität von Personen, Gütern und Informationen wird es immer geben und sind auch notwendig für das Überleben von Städten. Sie müssen und können aber eine lokalere Komponente haben, damit sie sich stärker im Quartier abspielen.

Welche Rolle spielen selbstfahrende Autos in Zukunft?
An der TU Wien haben wir uns in einem von der Daimler und Benz Stiftung geförderten Forschungsprojekt als interdisziplinäres Forschungsteam angeschaut, was Automatisierung und Vernetzung für den Verkehr und auch für die Mobilität in europäischen Städten bedeutet. In der technologischen Entwicklung von selbstfahrenden Autos stehen wir heute soweit, dass ihnen gewisse Eigenschaften unterstellt werden. Die Technologie dazu ist aber noch nicht in einem Maß entwickelt, wie es medial kommuniziert wurde. Deshalb mussten in den letzten Jahren gewisse Hoffnungen relativiert werden. Beispielsweise können selbstfahrende Autos heute nur im geschützten Areal zum Einsatz kommen und vielleicht in näherer Zukunft auf Autobahnen. Das Fahren in belebten innerstädtischen Räumen bei höheren Geschwindigkeiten liegt aber noch viele Jahre in der Zukunft.

 

Digibus - Erste Tests für selbstfahrende Autos haben in Österreich in Koppl nahe Salzburg stattgefunden.
Erste Tests für selbstfahrende Autos haben in Österreich in Koppl nahe Salzburg stattgefunden. Derzeit können selbstfahrende Autos nur in geschützten Arealen eingesetzt werden, der nächste Schritt wäre ein Einsatz auf Autobahnen. Für die automatisierte und vernetzte Mobilität stellen sie nur einen Aspekt von vielen dar, der weiterhin näher erforscht wird.
© Jonathan Fetka

 

Welche anderen Entwicklungen sind greifbarer?
Am Mobilitätsmarkt gibt es eine hochdynamische Entwicklung, was beispielsweise Carsharing, Bikesharing, E-Scooter-Anbieter und Fahrdienstleister betrifft. Es gibt überhaupt neue Organisationsformen, die sich davon wegbewegen, dass Mobilität besessen werden muss, sondern eher als Service konsumiert wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir in einer Wende leben, die ähnlich grundlegend verlaufen wird, wie die der Entwicklung des Automobils vor etwa einhundert Jahren. Wir müssen heute von einem grundlegenden Wandel der Städte ausgehen, der zu dem jetzigen, frühen Zeitpunkt noch gestaltbar ist. Diese Verantwortung muss von der Stadtverwaltung und Planung gesehen und es muss eine Position bezogen werden, bevor der Zug abgefahren ist.

Was ist automatisierter und vernetzter Verkehr?
Automatisierung bedeutet, dass ein System vorhanden ist, das die Fahrerin oder den Fahrer entlastet bzw. Fahraufgaben selbstständig übernimmt. Vernetzung heißt, dass ich als Konsument und auch die Fahrzeuge untereinander kommunizieren. Beides muss zusammen gedacht werden.

Betrifft das Konzept den Individualverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr?
Ein zentraler Baustein der anstehenden Verkehrsrevolution ist, dass Kategorien, die wir heute kennen, an Bedeutung verlieren und ineinanderfließen. Das betrifft den Individualverkehr und öffentlichen Verkehr, als auch Personenverkehr und Güterverkehr.

Welche Probleme bringt dieses Konzept mit sich?
Sharing-Konzepte und Mobilität als Service bergen alle Gefahren des Plattformkapitalismus. Ich habe den Eindruck, dass der Wandel hin zur Mobilität teilweise zu blauäugig behandelt wird. Da gibt es zuhauf Datenschutz- und Überwachungsprobleme und auch eine Prekarisierung des Arbeitsmarktes, die zu wenig berücksichtigt werden. Der politische Kern der Stadt wird dadurch essenziell angegriffen. Zudem sind die Hoffnungen bezüglich einer Dekarbonisierung des Verkehrs überzogen.

Sind neue Mobilitätskonzepte besser im städtischen oder ländlichen Raum umsetzbar?
Am besten kommen sie im Zwischenraum zum Einsatz. Der Stadtrand hat das größte Potenzial für automatisierte und vernetzte Anwendungen. Dort ist es bislang noch relativ unattraktiv den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Am Stadtrand können wir neue Alternativen gegenüber dem Individualverkehr entwickeln, die hochattraktiv sein können und damit helfen, dass die Verkehrswende auch akzeptiert wird. Radfahren und zu Fuß gehen müssen gleichzeitig immer gestärkt werden.

Wie beeinflusst die sich verändernde Mobilität die Architektur?
Wenn es nur annähernd stimmt, dass die Entwicklungen so weitreichend sein könnten wie beim Auto vor einhundert Jahren, dann entstehen ganz neue Gebäudetypen. Mit der externen Erschließung hängt die interne Erschließung von Gebäuden untrennbar zusammen. Auch die Erdgeschosszone ist davon abhängig, was draußen passiert. Wenn die verkehrliche Belastung sehr hoch ist, betrifft es natürlich auch die Geschosse darüber. Die Frage ist, was wir im Erdgeschoss unterbringen können und welche Rolle dabei der Handel spielt. Auch in dieser Hinsicht müssen wir integrierter denken.

Worin soll eine Stadt unbegrenzt sein?
Sie braucht mehr Lebensraum, der unterschiedliche Nutzungen zulässt. Sicherheit ist auch ein großes Thema, denn wir brauchen Straßen, wo z.B. Kinder spielen können, ohne durch den Verkehr gefährdet zu sein und die Ruhepole nicht Stressfaktoren sind. Die Stadt braucht Diversität, was sie im Grunde schon immer ausgemacht hat. Wir müssen nicht alles kontrollieren und vordenken, einschränken und lenken. Es benötigt mehr Vertrauen in die Selbstverantwortung und Eigenständigkeit der Bürgerinnen und Bürger, denn die kann hochproduktiv sein. Solche Städte sind in Zukunft möglich, aber sie kommen garantiert nicht von selbst.

 

www.avenue21.city
www.futurelab.tuwien.ac.at

 

 

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