Aus Industrie wird Wohnraum

Als eines der wichtigsten Wiener Stadtentwicklungsgebiete der letzten Jahre gilt Favoriten. In kaum einem anderen Bezirk der Hauptstadt wurden in so kurzer Zeit so viele Großprojekte realisiert. Das „Neue Landgut“ wird der neueste Streich der Stadt Wien im Herzen des 10. Wiener Gemeindebezirks. Der Beitrag Aus Industrie wird Wohnraum erschien zuerst auf architektur-online.

Aus Industrie wird Wohnraum

Als eines der wichtigsten Wiener Stadtentwicklungsgebiete der letzten Jahre gilt Favoriten. In kaum einem anderen Bezirk der Hauptstadt wurden in so kurzer Zeit so viele Großprojekte realisiert. Verwunderlich ist dies nicht – immerhin verfügt der suburbane Stadtteil nach wie vor über eine große Zahl an Brach- und nicht verbauten Freiflächen. Noch heute säumen etliche Industriehallen die Straßen des ehemaligen Industrie- und Arbeiterbezirks – viele von ihnen wurden mittlerweile einer zeitgemäßen Nutzung zugeführt. Das „Neue Landgut“ wird der neueste Streich der Stadt Wien im Herzen des 10. Wiener Gemeindebezirks. Unlängst veröffentlichte sie ein detailliertes Stadtentwicklungskonzept als Grundlage zur Umsetzung.

 

 

„Die Stadt soll nicht in die Breite wachsen.“
Diesem Leitsatz der Vizebürgermeisterin Birgit Hebein folgt das junge Wohnbauprojekt, das aus einer Kooperation der Stadt Wien mit der ÖBB-Immobilienmanagement GmbH erwuchs. Ein Areal, das unlängst noch ein Triebfahrzeugstützpunkt und Werkstätten dominierten, soll nun wohnbar gemacht und vor allem vorzeigbar werden. Dafür entstehen auf einer Fläche von 9 Hektar 1.500 Wohnungen für 4.000 Menschen. Um Nutzungsmischung zu gewährleisten, realisiert die Stadt auf der Brache zwischen Bahntrasse, Landgutgasse und Laxenburger Straße zusätzlich einen Bildungscampus für 1.300 Kinder und Jugendliche. Herzstück des Projekts ist dabei eine zentral gelegene Parkfläche, die den Bewohnern im dicht verbauten Stadtgebiet eine hohe Wohn- und Lebensqualität sichern soll. Raum für öffentliche Stellplätze ist auf dem Areal nicht eingeplant – die Autos der Anrainer finden anstatt dessen in einer Tiefgarage Platz.

 

Ökologisch, modern, leistbar
Zurzeit finden auf dem Gelände noch Abrissarbeiten statt, die aber noch heuer ihren Abschluss finden sollen. Der Baubeginn des Projekts ist für das Frühjahr 2021 angesetzt, wobei die Fertigstellung voraussichtlich 2026/2027 erfolgt. Danach soll das Areal durch ein ausgewogenes Angebot an Gemeindebauten, Genossenschafts- und geförderten Mietwohnungen verschiedenen Bevölkerungsschichten offen stehen. Dies ist ein wichtiger Schritt; denn aus gesellschaftspolitischer Sicht reicht es nicht aus, beim Zuzug in neue Wohngebiete das Recht des (finanziell) Stärkeren entscheiden zu lassen. Wohnraum muss nun einmal leistbar sein, um den Bedürfnissen der stark differenzierten Gesellschaft in einer Großstadt gerecht zu werden.

Auch Nachhaltigkeit wird beim Neuen Landgut Thema sein. So ist die Integration grüner Energie in Form von Fotovoltaik-Anlagen geplant. Alle Zeichen deuten also darauf hin, dass es sich beim Neuen Landgut nicht nur um ein gesellschaftlich, sondern auch um ein ökologisch verträgliches Projekt handelt. In das nachhaltige Bauvorhaben investiert die Stadt Wien insgesamt 90 Millionen Euro.

Eine Besonderheit des Neuen Landguts ist dessen Lage. Es handelt sich um ein Randgebiet, das trotzdem durch urbane Strukturen geprägt wird. Außerdem sind die Bewohner durch die gute Verkehrsanbindung in nur wenigen Minuten in der Innenstadt. Haltepunkte des Öffentlichen Verkehrs sind ausreichend vorhanden, um den baldigen Zuwachs an Einwohnern zu bewältigen. Die unmittelbare Umgebung wartet mit zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten auf. So wie es jetzt aussieht, läuft das Neue Landgut nicht Gefahr, zu einer reinen Schlafstadt zu werden – einer der größten Vorteile der urbanen Nachverdichtung.

 

 

Bestand bei Nachverdichtung schützen
Werden Baulücken in bereits dicht verbauten Gebieten gefüllt, stellt sich unweigerlich die Frage, wie mit Bestandsbauten umzugehen ist. Immer öfter entscheiden sich Planer für die Erhaltung historischer Gebäude und integrieren diese in ihr Projekt. Häufig sind sie für neue Wohngebiete identitätsstiftend und fungieren dort als Landmarke – sind sie durch einen markanten Baustil gekennzeichnet, gilt dies umso mehr.

Beim Neuen Landgut werden zwei historische Ziegelhallen den Lebensraum der Bewohner zieren. Beide Gebäude blicken immerhin auf ein stolzes Alter von über 115 Jahren zurück. Eines von ihnen – und zwar die „Gösserhalle“ – wird mittlerweile als Veranstaltungshalle vermietet. Für die „Inventarhalle“ ist eine ähnliche Entwicklung abzusehen. Der hohe Stellenwert der historischen Bauobjekte wird durch ihre zentrale Position inmitten des Parks gewürdigt.

Bei zukünftigen Projekten spielt der sensible Umgang mit dem Bestand eine immer wichtigere Rolle. Denn ist die Stadtplanung darum bemüht, das flächenmäßige Wachstum der Hauptstadt zu bremsen, treffen Neubauten unweigerlich auf Altbestand. Dies gilt vor allem dann, wenn Wohn- und Lebensraum in historischen Stadtteilen realisiert wird. Und tatsächlich besinnt sich die Stadt Wien immer öfter darauf, Brachflächen inmitten bereits verbauter Flächen zu nutzen. Ein junges Musterbeispiel für diese Entwicklung ist der ehemalige Nordbahnhof im 2. Wiener Gemeindebezirk. Auch mit diesem Wohn- und Arbeitsviertel folgte die Hauptstadt dem Trend, den Standort der ehemaligen Nordbahntrasse zu verwerten. Bei der Errichtung des Nordbahnviertels trafen Planer nicht nur auf erhaltenswerte Bauten wie den Wasserturm, sondern auch auf schützenswerte Biotope. Beide Elemente integrierte die Stadt bewusst in das Projekt. Sowohl ein naturbelassener Wildgarten als auch der zentrale Rudolf-Bednar-Park dienen Amphibien als Wohnraum.

 

Städtebauliche Projekte als Sanierungsantrieb
Oft ist die Realisierung umfangreicher Wohnprojekte mit der Aufwertung des angrenzenden Stadtteils verbunden. Voraussetzung dafür ist eine integrative Planung, die Identität und Potenzial umliegender Strukturen berücksichtigt. Eine solch positive Entwicklung ist bereits heute beim Neuen Landgut abzusehen. So erhält im Zuge der Errichtung des Stadtteils auch die Laxenburger Straße einen Neuanstrich. Die vom Favoritner Bezirksvorsteher Marcus Franz als „trist“ bezeichnete Durchfahrtsstraße wird mit einer Baumallee begrünt und verbreitert. Auch ein Radweg soll den Straßenabschnitt bereichern.

Ein wichtiger Schwerpunkt bei der Planung des Neuen Landguts ist nicht zuletzt die Verbesserung der räumlichen Vernetzung des ehemaligen ÖBB-Standorts. Um den Bewohnern den Zugang zum öffentlichen Verkehr und zu Nahversorgern zu erleichtern, müssen eine Neugestaltung der Favoritenstraße und eine Vergrößerung des nahe gelegenen Columbusplatzes erfolgen. Beide Stadträume werden dem Fußgängerverkehr vorbehalten sein und ihm als wichtiger Knotenpunkt dienen. Bewohner des Neuen Landguts haben damit auch die Möglichkeit, den Hauptbahnhof zu Fuß zu erreichen.

 

 

Das Ende der Wohnungsknappheit?
Darf man der Prognose der Wiener Wirtschaftskammer Glauben schenken, kommt mit 2020 das Ende der Wohnungsknappheit. Denn gemäß einer neuen Bauträgerdatenbank, werden bereits heuer viele Projekte fertiggestellt. Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht – immerhin boomt der Wohnungsbau in der Bundeshauptstadt seit einigen Jahren. Mit 2017 gab es so viele Baubewilligungen wie noch nie. Alleine 2020 erfolgt die Fertigstellung von 3.700 freifinanzierten Mietwohnungen, 5.000 Eigentumswohnungen und 6.600 geförderten Wohnungen. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren – unter anderem mit der Realisierung des Neuen Landguts – fortsetzen.

Gemäß der Studie der Wirtschaftskammer ist die durchschnittliche Neubauwohnung 66 Quadratmeter groß und verfügt über eine Freifläche von 24 Quadratmetern. Außerdem stehen auf dem Wiener Wohnungsmarkt zunehmend Miet- anstatt Eigentumswohnungen im Fokus. Grund dafür ist das Investorenverhalten – sie kaufen immer öfter ganze Projekte auf und bringen sie als Mietwohnungen auf den Markt.

Ein Überangebot an Wohnraum ist nicht zu erwarten. Ist der Markt gesättigt, wird sich die Bauleistung wieder dem Bedarf anpassen. Wichtig ist, dass die Stadt Wien auch bei zukünftigen Projekten das Prinzip der urbanen Nachverdichtung beibehält. Gerade in den inneren Bezirken, aber auch in ehemaligen Industrievierteln ist dafür noch viel Potenzial vorhanden.

 

 

Text: Dolores Stuttner
Renderings: ÖBB/Estudio Elgozo

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