Den sozialen Kontext einer Stadt betrachten
Interview - Caren Ohrhallinger ist Architektin, Prozessbegleiterin, Moderatorin und Mediatorin und seit 2003 Partnerin bei nonconform. Die für das Büro für Architektur und partizipative Raumentwicklung charakteristische Planungsmethode der nonconform ideenwerkstatt konnte mit ihr als Mitbegründerin ins Leben gerufen werden, ebenso wie die nonconform akademie, ein Weiterbildungsangebot für innovative Bürgerbeteiligung, bei dem sie auch die Funktion als Lehrende einnimmt. Der Beitrag Den sozialen Kontext einer Stadt betrachten erschien zuerst auf architektur-online.
Caren Ohrhallinger ist Architektin, Prozessbegleiterin, Moderatorin und Mediatorin und seit 2003 Partnerin bei nonconform. Die für das Büro für Architektur und partizipative Raumentwicklung charakteristische Planungsmethode der nonconform ideenwerkstatt konnte mit ihr als Mitbegründerin ins Leben gerufen werden, ebenso wie die nonconform akademie, ein Weiterbildungsangebot für innovative Bürgerbeteiligung, bei dem sie auch die Funktion als Lehrende einnimmt. nonconform begleitet Orte und Organisationen bei räumlichen Veränderungen und beschäftigt sich dazu neben der Architektur auch mit Raumplanung, Gemeinde- und Stadtentwicklung, Prozessbegleitung und Kommunikation, Pädagogik, Kulturmanagement und den Schnittstellen dazwischen. Genauso vielseitig sind auch die Arbeitsschwerpunkte von Caren Ohrhallinger, sie liegen vor allem in der partizipativen Ortskern- und Stadtentwicklung, Schulraumentwicklung und in der Schnittstelle zur Organisationsentwicklung.
Was macht eine Stadt aus?
Die soziale Netzwerkdichte. Es ist die Komplexität, resultierend aus der Vielfalt und Verweildauer der Menschen, die sich im Stadtraum aufhalten, und damit das Potential, Gruppen verschiedener sozialer Identität zu vernetzen. Das ist wichtig für eine nachhaltig soziale Gesellschaft: Je mehr abgegrenzt agierende, nicht vernetzte Gruppen verschiedener sozialer Identität, je größer die Schere zwischen Arm und Reich, desto mehr wird die Freiheit aller beschnitten.Sinkende soziale Sicherheit beeinflusst die Bewegungsfreiheit aller und befeuert die Überwachung des öffentlichen Raums und Enklavenbildung wie Gated Communities. Und die räumliche Segregation sozialer Gruppen wirkt sich wiederum auf das Potential des öffentlichen Raums aus, die verschiedenen Gruppen zu vernetzen.
Was macht die Qualität einer Stadt aus?
Ausschlaggebend ist, was die Stadt an öffentlichen Räumen bietet: Abhängig von der (Klein)teiligkeit und räumlichen Qualität der gebauten Struktur, der Erdgeschosszonen und der Angebote, die es gibt, und ob es konsumfreie oder von Konsum (und welcher Art!) besetzte Räume sind. Wir brauchen dabei Räume und Orte, an denen Überschneidungen verschiedener sozialer Gruppen mit dem Anspruch der Gleichwürdigkeit stattfinden können. Das betrifft u.a. die Frage, für welche Nutzungsgruppen der öffentliche Raum geplant wird, wie wir mit Randgruppen, wie etwa Obdachlosen, umgehen. Dazu reicht eine rein physische Überlagerung nicht aus und ein reibungsloses Nebeneinander ist auch nicht das Ziel – vielmehr müssen wir uns als Gesellschaft mit diesen Herausforderungen aktiv auseinandersetzen anstatt sie zu verdrängen und räumlich zu verlagern. Das bedeutet Arbeit und ist auch nicht mit einem Mal erledigt, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess. Dieses Problembewusstsein zu haben, den sozialen Kontext genauso zu betrachten wie den baulichen Kontext, gehört auch zu den Aufgaben der Planerinnen und Planer.
Für den sozialen Austausch mit Personen, mit denen wir sonst keine Berührungspunkte hätten, brauchen wir Anlässe und Gelegenheiten zum Andocken. Ein Aspekt dabei ist die Aneigenbarkeit des öffentlichen Raumes: Dazu braucht es niederschwellig zugängliche Angebote zur Aneignung mit Verantwortungsübernahme – in öffentlichen Räumen, die genügend Alltagsfrequenz für Sichtbarkeit und Zufallsbegegnungen haben. Das kann z.B. das Stück Gehsteig vor der eigenen Haustür sein. Verantwortungsübernahme bedeutet dabei, dass es Personen gibt, die sich für das, was sozial dort geschieht, verantwortlich fühlen und sich darum kümmern. Die Initiative der Grätzloase der Stadt Wien ist da ein Schritt in die richtige Richtung: Private nehmen temporär ein Stück öffentlichen Raums unter ihre Obhut und werden zum Gastgeber für ihre Nachbarn. Solche Aktionen, die sich auf bereits bestehende Nachbarschaften beziehen, sind sehr kleinräumig und haben gerade dadurch hohe Wirkungskraft in die Tiefe.
Eine Insel in der Stadt – die private Initiative im zweiten Wiener Gemeindebezirk schafft einen konsumfreien Aufenthalts- und Begegnungsort im öffentlichen Raum.
© Caren Ohrhallinger
Welche Rolle spielt die soziale Durchmischung in einer Stadt?
Es sollen Räume und Möglichkeiten geschaffen werden, damit man im Alltag möglichst vielen Lebensrealitäten begegnet. Ein Weg dazu ist, die verschiedenen Organisationsweisen von Wohnformen zueinander kleinteiliger in Bezug setzen. Freifinanzierte, geförderte und selbstverwaltete Organisationen haben verschiedene Zielgruppen. Wenn man es schafft, diese gebäudeweise oder sogar geschossweise zu mischen und eine Hausgemeinschaft aufzubauen, dann ist das ein Schritt in Richtung alltagsnaher erlebbarer Durchmischung.
In welchen Bereichen braucht es mehr Partizipation in der Stadt?
Wir arbeiten viel mit Stadtverwaltungen und auch Bauträgern zusammen und merken, dass es oft Unsicherheit gibt, wie man Partizipation einsetzen kann. Oft geht man erst in einer sehr fortgeschrittenen Projektphase an die Öffentlichkeit. Wir empfehlen, so frühzeitig und gleichzeitig so offen wie möglich hinauszugehen. Aus unserer jahrelangen Erfahrung in auch konfliktbehafteten Prozessen wissen wir, dass Offenheit letztendlich Vertrauen und Glaubwürdigkeit fördert und man Bürgern auch Ungewissheiten und Komplexität zumuten darf. Wichtig ist der offene Diskurs und das nachvollziehbar machen, warum manche Dinge nicht möglich sind. Andere Perspektiven müssen sichtbar gemacht werden, dazu gehört auch der globale Blick des Flächen- und Ressourcenverbrauches. Wenn diese Perspektive kein anderer einnimmt, vertreten wir sie – wir sind nicht nur Prozessbegleiter, sondern auch Anwälte der Zukunft.
Gemeinsames Entwickeln von Ideen und Konzepten im Ideenlabor durch Verwendung kreativer Methoden.
© nonconform
Muss die Vielfalt der Wohnformen weitergedacht werden?
Das Thema Wohnformen ist schon stark im Wandel, doch die Umsetzung ist aus den verschiedensten Gründen – Sicherheitsdenken, Kostengründe, Trägheit – zeitverzögert. Die innovativsten Ansätze sehen wir dort, wo Lebensraum mit persönlichem Bezug geschaffen wird – also entweder (von einer Baugruppe) für sich selbst gebaut wird, oder (von einem Investor) in einem Ort gebaut wird, zu dem er einen Bezug hat, dessen Entwicklung ihm am Herzen liegt.
Wichtig ist, Vielfalt nicht nur auf Ebene der Wohnformen zu denken, sondern ein Gebäude auf struktureller Ebene nutzungsoffen zu bauen, sodass es nicht nur für Wohnen, sondern genauso für gewerbliche und andere Nutzungen funktioniert und so auf sich ändernde Nachfrage von Nutzungen reagieren kann.
Welche neuen Wohnformen werden gebraucht?
Es müssen vermehrt neue Wohnformen entwickelt werden, die eine Weiterentwicklung der klassischen Wohngemeinschaft mit eigenem Zimmer und geteilter Küche und Bad sind – die „WG 2.0“: Es geht um gemeinschaftliches Zusammenleben mit wenig Flächenverbrauch, um den Trend zu immer mehr Fläche je Bewohner und gleichzeitiger Anonymität und Vereinsamung entgegenzuwirken. Dabei wird sich das Verhältnis von Privatheit und Gemeinschaft ändern und die Bedürfnisse, die Ansprüche an Exklusivität der Funktionen werden differenzierter. Gleichzeitig möchte und kann nicht jeder wie in einer Baugruppe alles von Grund auf gemeinsam entwickeln und gestalten. Das heißt, es braucht reproduzierbare Modelle, bei denen die Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft anpassbar bleibt. Auch Menschen in anderen Lebensaltern, abgesehen von Studierenden, werden zunehmend gemeinschaftliche Wohnformen nutzen. Dabei versprechen vor allem altersgerechtes und generationenübergreifendes Zusammenwohnen spannende symbiotische Lösungsansätze – nicht nur aufgrund der demografischen Entwicklung, sondern für ein besseres gesellschaftliches Miteinander.
Organigramm aus Wohnbedürfnissen und Bewegungslinien einer neuen Wohnform, die im Ideenlabor – einer Beteiligungssimulation mit Betroffenen und Expertenvertreter*innen – für ein Bestandsentwicklungsprojekt in Berlin entwickelt wird.
© nonconform
Wieso erfahren gemeinschaftliche Wohnformen aktuell ein so großes Interesse?
Wir beobachten vermehrt die Forderung der Menschen nach mehr Mitbestimmung und Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes; und auch der generelle Trend in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, selbstorganisiert und flachhierarchisch zu agieren, nimmt zu. Das betrifft Unternehmen wie Vereine und andere Organisationen, und ist sicherlich auch ein Grund, wieso Baugruppen mehr nachgefragt sind.
Was macht eine funktionierende Gemeinschaft aus?
Eine funktionierende Gemeinschaft braucht zum einen als Basis ein gemeinsames Verständnis des Zwecks – dessen, was die Gemeinschaft ausmacht; und zum anderen eine flache Organisationsstruktur. Das bedeutet, als Teil einer Gemeinschaft soll jede Person einen Teil der Arbeit und der Zuständigkeiten – und damit auch der Verantwortung und Entscheidungskompetenz – übernehmen. Nur so kann gegenseitiges Verständnis für Arbeit, Transparenz und damit Vertrauen entstehen.
Worin soll eine Stadt unbegrenzt sein?
Begrenzt sein soll sie im Flächenverbrauch, unbegrenzt in der sozialen und geistigen Aufgeschlossenheit!
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