Der Kontext als maßgebender Planungsparameter
Interview: Catharina Maul wurde 2022 als Emerging Female Architect of the Year ausgezeichnet. Die junge Architektin kommt aus einer Architektenfamilie und gründete 2017 mit maul-architekten ihr eigenes Büro, bei dem auch ihr Vater Franz Maul (selbst seit über 30 Jahren im Geschäft) als Gesellschafter mitwirkt. 2020 kam neben dem Büro in Wien nicht nur eine Zweigstelle in Attersee dazu, sondern auch eine weitere Teilhaberin: Melanie Högl. Gemeinsam mit ihrem Team entwickeln die beiden Frauen unter anderem Projekte im landlichen Raum, die sich behutsam in ihre Umgebung einfügen und eine Symbiose aus Alt und Neu schaffen. Im Interview sprechen die Oberösterreicherin und die Münchnerin unter anderem über Architektur am Land (und in der Stadt) sowie die Signifikanz des jeweiligen Kontexts.
Catharina Maul (links) wurde 2022 als Emerging Female Architect of the Year ausgezeichnet. Die junge Architektin kommt aus einer Architektenfamilie und gründete 2017 mit maul-architekten ihr eigenes Büro, bei dem auch ihr Vater Franz Maul (selbst seit über 30 Jahren im Geschäft) als Gesellschafter mitwirkt. 2020 kam neben dem Büro in Wien nicht nur eine Zweigstelle in Attersee dazu, sondern auch eine weitere Teilhaberin: Melanie Högl. Gemeinsam mit ihrem Team entwickeln die beiden Frauen unter anderem Projekte im landlichen Raum, die sich behutsam in ihre Umgebung einfügen und eine Symbiose aus Alt und Neu schaffen. Im Interview sprechen die Oberösterreicherin und die Münchnerin unter anderem über Architektur am Land (und in der Stadt) sowie die Signifikanz des jeweiligen Kontexts.
Wie würden Sie die Arbeitsweise und Philosophie Ihres Büros beschreiben?
Catharina Maul CM: Grundsätzlich versuchen wir, bei all unseren Projekten den Fokus auf den Kontext zu legen, sei es aus städtebaulicher oder aus gesellschaftlicher Sicht. Egal ob am Land oder in der Stadt, die bautechnische und baugestalterische Umgebung ist für uns maßgebend. Weiters achten wir von Beginn an immer auf eine gute Gesprächsbasis – sowohl bürointern als auch mit Fachplaner:innen und Bauherr:innen.
Sie haben ein Büro in Wien und eines in der Gemeinde Attersee. Wo liegen für Sie die Grenzen zwischen Stadt und Land?
CM: Eine klare Grenze zu ziehen und zu definieren, wo eine urbane Gegend beginnt, ist oft gar nicht so einfach. Es gibt viele so genannte Zwischenstadtlandschaften, die man weder klar als Stadt noch als Land bezeichnen kann. Die Bundesstraße 1 in Oberösterreich zwischen Linz und Wels ist für mich ein gutes Beispiel für einen solchen Raum. Diesem undefinierbaren, nicht heterogenen Raum sowie der damit verbundenen Nutzung habe ich mich neben einem nachhaltigen Energiekonzept im verdichteten Flachbau auch in meiner Diplomarbeit gewidmet.
Melanie Högl MH: Genau diese Übergänge und Zwischenräume ergeben häufig spannende Situationen. Zum einen leben und profitieren Stadt und Land voneinander, zum anderen lässt sich nirgends genau festmachen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Bei den HTL Tourismusschulen Retz ergänzte man ein Bestandsgebäude aus den 70er-Jahren um einen neuen Trakt und schuf so ein zeitgemäßes Bildungsensemble, das sich behutsam ins Ortsbild einfügt. © Schreyer David
Worin unterscheidet sich in Ihren Augen die Planung im urbanen und im ländlichen Raum?
MH: Wir haben zwar zwei Büros, das heißt aber nicht, dass sich eines auf das Thema Land und das andere auf die Stadt beschränkt. Generell sehe ich beim Planen im urbanen und ländlichen Raum keine konkreten Unterschiede. Vielmehr kommt es auf die Bauaufgabe und deren spezifischen Ort bzw. dessen individuelle Gegebenheiten an.
CM: Der größte Unterschied ist meiner Meinung nach schlichtweg die Dichte der Umgebung. Die Stadt ist per Definition enger bebaut als das Land und das wirkt sich insofern natürlich auf die Planung aus, als man mit anderen Themen wie Infrastruktur, Abständen etc. konfrontiert wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei beiden der jeweilige Ort maßgebend ist.
Kann Ihrer Meinung nach jede/r im ländlichen Kontext bauen bzw. planen oder braucht es dafür ein bestimmtes Verständnis?
CM: Ich denke bei jedem Projekt ist eines essenziell: ein Grundverständnis für den Kontext. Sonnenlauf und Topografie und dementsprechend Ausrichtung und Position gilt es in der Planung überall gleichermaßen zu beachten – am Land berücksichtige ich dann eben einen Hang, in der Stadt dagegen ein Nachbargebäude. Als Architekt:in sollte ich das Feingefühl mitbringen, um mich in Orte hineinversetzen zu können und die Wünsche der Bauherr:innen in ein gebautes Ganzes zu verpacken.
Mit dem Gemeindezentrum Zwentendorf entwickelten maul-architekten eine neue, multifunktionale Ortsmitte, die Groß und Klein zusammenbringt. © Schreyer David
Welche besonderen Qualitäten bieten rurale Gegenden, wo gibt es (ungenutztes) Potenzial?
CM: Eine Qualität, die der ländliche Kontext bietet, ist seine Weitläufigkeit. Ausblick und Einblick spielen oft eine größere Rolle als in der Stadt. Während man am Land häufig Panoramen mit Bergen oder Seen mit großflächigen Verglasungen bewusst in Szene setzen kann, sind in einer urbanen Umgebung völlig andere Maßnahmen nötig. In der Stadt bietet vielleicht ein Oberlicht die Möglichkeit, mit dem Außenraum zu kommunizieren. Ungenutztes Potenzial sehe ich bei brachliegendem Bauland, welches stärker in den Diskurs gebracht werden sollte.
MH: Die Themen Leerstand und Abwanderung spielen in ländlichen Gebieten ebenfalls eine wichtige Rolle. Deshalb steckt meiner Meinung nach gerade in leerstehenden Bestandsgebäuden jede Menge Potenzial. Hier gilt es, den Fokus auf die Revitalisierung gut angebundener Gegenden zu legen: funktionierende Ortszentren nachverdichten, Leerstand gezielt entgegenwirken und der Bevölkerung das Land so als attraktive Lebensumgebung wieder näherbringen.
Gibt es besondere Herausforderungen, denen man beim Bauen am Land begegnet?
CM: Ein schwieriger Punkt ist der Individualverkehr. In vielen Projekten gehört die Anzahl der Parkplätze und die Zufahrt zu den wichtigsten Themen. Da gibt es sicherlich viel Aufholbedarf und es liegt auch an uns als Architekt:innen, aufzuzeigen, dass es anders gehen muss und kann.
MH: Das Auto hat am Land leider nach wie vor einen hohen Stellenwert und jeder will am besten eine Garage mit Platz für zwei PKWs. Das ist unter anderem dem geschuldet, dass der öffentliche Nahverkehr oder Radwege fehlen und man nicht auf Alternativen ausweichen kann.
Am Mondsee realisierte man mit dem Bootshaus B eine Revitalisierung. In Lärchenholz gekleidet, erhält das Projekt eine skulpturale Optik. © Lukas Maul
Wie begegnet man diesem Problem am besten, wie lässt es sich lösen?
MH: Wir versuchen in erster Linie, stets eine gute Diskussionsbasis zu schaffen und den Dialog mit Auftraggeber: innen zu suchen – was aber nicht bedeutet, dass das immer funktioniert. Erschwerend kommt hinzu, dass die behördlichen Vorgaben oft in eine andere Richtung gehen. Zwei Stellplätze pro Wohnung generieren zu müssen, kann nicht die Zukunft sein.
CM: Häufig ist die Bereitschaft gar nicht das Problem. Vielmehr lassen die Baugesetze ein Umdenken überhaupt nicht zu. Hier läge es unseres Erachtens an der Politik, die Vorgaben hinsichtlich der Mindestanzahl von Parkplätzen anzupassen und – wo nötig – auch das Angebot im öffentlichen Verkehr auszubauen.
Wie unterstützt man den ländlichen Raum als zukunftsfähige Lebensumgebung?
CM: Per se trägt jeder Mensch den Wunsch in sich, in einer grünen Umgebung zu leben. Oft sind es erst bestimmte Lebenssituationen wie Studium oder Arbeit, die einen Umzug in die Stadt mit ihrem breiten Angebot notwendig machen. Wichtig ist – sowohl im ländlichen als auch im urbanen Kontext – (öffentliche) Räume zu schaffen, welche die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzergruppen erfüllen. In dieser Hinsicht können Stadt und Land auch voneinander lernen. Beide haben ihre jeweiligen Qualitäten und brauchen sich somit auch in Zukunft gegenseitig.
MH: Beispielsweise durch gezielte Vermittlung von Baukultur und Architektur könnte man bereits bei der Jugend ansetzen und frühzeitig ein Bewusstsein für den jeweiligen Stellenwert von Stadt und Land schaffen.
Wohnung am Kardinal Nagl Platz in Wien. © Schreyer David
Gibt es in der Architektur am Land Entwicklungen hin zu mehr Flächeneffizienz oder träumen die meisten immer noch vom Einfamilienhaus mit Garten?
MH: Prinzipiell ist der Traum vom Eigenheim mit Garten noch tief in den Köpfen verankert.
CM: Viel interessanter finde ich die Frage, woher dieser Wunsch kommt. Früher lebte man in einem Generationenhaus, oder in dichteren Dorfstrukturen und nutzte so nicht nur Flächen und Energie effizienter, sondern auch die Versorgung der Kinder ließ sich einfacher organisieren. Die Typologie des Einfamilienhauses – eine Entwicklung der 70erbzw. 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts – bringt in Zeiten der Teuerung und Klimaveränderung maßgebende Nachteile in Bezug auf Kosteneffizienz, Flächenverbrauch, Energie und Ressourcen.
Können alternative Wohnkonzepte auch am Land funktionieren?
CM: Ich denke, Alternativen zum Einfamilienhaus funktionieren, wenn das Gegenüber dazu bereit ist. Hier sollte man sich selbst ehrlich fragen, ob ein Eigenheim mit Garten die einzige für einen passende Wohnform ist. Bauträger:innen und wir als Planer:innen sind gefordert die Vorzüge, beispielsweise von verdichtetem Flachbau, aufzuzeigen.
MH: Man sollte sich fragen, welchen Mehrwert einem ein Einfamilienhaus tatsächlich bietet. Nehme ich den höheren Energiebedarf in Kauf, um mehr Luxus und Platz zur Verfügung zu haben in Zeiten der Klimaveränderung?
Gibt es ein Projekt, bei dem Sie besonders viel gelernt haben?
CM: Das schöne ist, dass jedes Projekt eine individuelle Fragestellung aufwirft. Sei es aus räumlicher oder technischer Sicht – jedes Gebäude ist vom ersten Strich an bis zur Schlüsselübergabe ein Prozess, bei dem es stets darum geht, Lösungen zu finden. Unser vielleicht größtes Learning der letzten Jahre ist: Nichts ist unmöglich. Solange es gelingt, den Dialog mit allen Projektbeteiligten zu halten, findet man immer einen Weg. So lernt man bei jedem Projekt aufs Neue dazu – selbst mein Vater (Franz Maul), der seit über 35 Jahren als Architekt arbeitet.
Interview: Edina Obermoser