Mind the Gap
Die zunehmende Urbanisierung, steigende Bodenpreise und eine stetig wachsende Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum in den Zentren unserer Metropolen verlangen nach dem Ausloten neuer Wohnmöglichkeiten und innovativen architektonischen Lösungsansätzen. Im Fokus: die Baulücke.
Die zunehmende Urbanisierung, steigende Bodenpreise und eine stetig wachsende Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum in den Zentren unserer Metropolen verlangen nach dem Ausloten neuer Wohnmöglichkeiten und innovativen architektonischen Lösungsansätzen. Im Fokus: die Baulücke.
Die Verdichtung von urbanen Lebensräumen steht bereits seit einiger Zeit im Fokus von Städteplanern und Architekten. Unschön klaffende Baulücken zu schließen, bedeutet nicht nur potenziell bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, sondern auch ein Stück Niemandsland wieder an den öffentlichen Raum anzugliedern und die gesamte Umgebung aufzuwerten. Effizienz und Ästhetik spielen dabei eine ebenso große Rolle wie Verständnis und Respekt für gewachsene Strukturen und Proportionen. Innovative Zwischennutzungsprojekte wie Urban Gardening, Pop Ups, Food Trucks, Märkte, Installationen und mehr können im Vorfeld dabei helfen, ungenutzte Potenziale aufzudecken oder – wie im Falle des Konzepts der Manifesto Markets in Prag – bereits beplante Bauflächen als Zwischennutzung heute der breiten Bevölkerung zugänglich machen, bevor sie ab Baubeginn morgen an anderer Stelle zum Zusammenkommen einladen.
Kein Wunder, dass die Baulücke per se ein äußerst spannendes Spiel- und Handlungsfeld für Entdecker, Architekten und Planer darstellt. Begrenzung bedeutet eben oftmals auch kreative Entfaltung, sodass “aus der Not heraus” andernorts undenkbare Lösungsansätze plötzlich völlig logisch und konsequent erscheinen. In der konkreten Umsetzung braucht es dafür aber ebenso aufgeschlossene Bauherren und Investoren, die diese Chancen erkennen und nutzen möchten. Dabei weiß die Baulücke mit einigen schlagenden Argumenten zu überzeugen: Die Grundstücke liegen an einer bereits bebauten Straße zwischen benachbarten bebauten Grundstücken und können sofort oder zeitnah bebaut werden. Erschließungseinrichtungen sind zudem bereits vorhanden oder ohne größeren Aufwand zu realisieren – was die Baulücke im Vergleich zum klassischen Neubau deutlich günstiger macht.
Aus gestalterischer Sicht spannend ist auch das umgebende Ensemble, das zum Einen auf das einzufügende Objekt ausstrahlt, zum Anderen ebenso von dem Schluss der Lücke geprägt werden wird. Hier kann es, je nach städtebaulichen Vorgaben und künstlerischer Interpretation, zwei mögliche Antworten geben: Anbiederung oder Abgrenzung – wobei beide Varianten ihr Für und Wider haben. Zahlreiche Beispiele rund um die Welt zeigen, wie vielfältig, smart und inspirierend mit Baulücken umgegangen werden kann und warum es sich lohnt, weiter darüber nachzudenken, wie sich auch der engste Schlurf, der verwinkeltste Hof oder die kleinste Parzelle aus dem Dornröschenschlaf erwecken lassen könnten.
CARRER DE LA DEPUTACIÓ | Barcelona, Spanien
Heim Balp Architekten nutzten in Kooperation mit Derryk Dettinger Arquitecte ein lediglich siebeneinhalb Meter breites und 28 Meter tiefes Grundstück einer Baulücke an der Plaza de Toros in Barcelonas Stadtteil Eixample auf den Millimeter aus, um dort ein Apartmenthaus inklusive gemeinschaftlich genutzter Strukturen zu realisieren. Die Fassade ist geprägt von einem Gerüst aus dunkelrot getünchten vertikalen Stahlträgern mit zwischenliegendem, beweglichem Sonnen- und Blendschutz in der gleichen Farbgebung – eine Referenz an die roten Ziegel in der Umgebung.
Hinter diesem semitransparenten Vorhang befinden sich 25 möblierte Wohneinheiten in Form von Mikro-Apartments. In den privaten Wohneinheiten wurde ganz am Puls der Zeit an Platz gespart, um an anderer Stelle entsprechend großzügige gemeinschaftlich genutzte Angebote zur Verfügung stellen zu können: Das Carrer de la Deputació umfasst eine geräumige Küche mit Ess- und Arbeitsplätzen, einen Aufenthaltsbereich sowie eine Dachterrasse mit Pool und Blick über die Stadt. Als Ergebnis findet sich unter den Bewohnern eine vielfältige soziale Gemeinschaft wieder, die das “Unser” im Gegensatz zum “Meines” in den Mittelpunkt ihres Wohnumfelds stellt.
[See image gallery at www.architektur-online.com] Fotos: Filippo Poli
„Die Herausforderung bestand darin, eine effiziente Nutzung für eine so schmale Baulücke zu finden und alle Anforderungen an den Brandschutz zu erfüllen. Dies gelang durch den Einbau von zwei in sich verschachtelten Treppenhäusern. Ein innenliegender Patio mit einem Glasaufzug verleiht dem Innenraum trotz des geringen Ausmaßes räumliche Qualität.“
Heim Balp Architekten
HAUS IM INNENHOF | Nové Město na Moravě, Tschechien
Den Geist des Ortes eines denkmalgeschützten historischen Stadthauses und die Struktur der umgebenden Bebauung erhalten und stärken und dabei gleichzeitig erschwinglichen Wohnraum mit allen Annehmlichkeiten schaffen – so das Briefing der Bauherren für IGLOO ARCHITECTS, die dementsprechend einen Erweiterungsbau in den Innenhof des Bestandshauses setzten. In diesem Zuge sollten auch Innen- und Außenraum mit Hof und Garten verbunden werden. Eine Herausforderung in Anbetracht des stark abfallenden Baugeländes.
Die Orientierung des Gebäudes nach innen richtet sich nach der Qualität des Ortes, die aus der erhaltenen historischen Struktur der Gebäude sowie den Blickachsen auf die umliegenden Häuser, den Kirchturm sowie die Schichtung der Dach- und Wandebenen resultiert. Der Innenhof bietet Ruhe und Privatsphäre und liegt dabei nur einen kurzen Fußmarsch durch das Gebäude vom Stadtzentrum entfernt. Ganz im Sinne der traditionellen Verwurzelung des Bestands kamen vornehmlich lokal verwendete Materialien wie Holz und Stahl, glatter, grau-weißer Putz sowie Stein und Glas zum Einsatz. Die überwiegend quadratisch ausgeführten Fensteröffnungen wurden sorgfältig nur an den Stellen vorgesehen, an denen sie wichtig und gerechtfertigt erschienen.
[See image gallery at www.architektur-online.com] Fotos: Filip Šlapal
“Das architektonische Hauptkonzept des Entwurfs ist die Symbiose und emotionale Verschmelzung des neuen Anbaus mit der bestehenden Gebäudestruktur, jedoch mit einem zeitgenössischen, modernen Ansatz und architektonischen Details, ohne dabei historische Formen zu kopieren.”
IGLOO ARCHITECTS
[See image gallery at www.architektur-online.com]
DODGED HOUSE | Lissabon, Portugal
Wie der Name andeutet, versucht das Dodged House von Daniel Zamarbide (bureau) und Leopold Banchini einen Ist-Zustand in Lissabon zu umgehen, zu überlisten. Denn die Krise, die Portugal vor zehn Jahren heimsuchte, hat eine unglaubliche Dichte an verlassenen Räumen hervorgebracht. Baulücken in einem übertragenen Sinne, eine Landschaft geschlossener Gebäude mit undurchsichtigen Fassaden, leer und verlassen, in Erwartung besserer Zeiten vorübergehend im Licht der Sonne erstarrt. Dank eines sensiblen und kultivierten Ansatzes der portugiesischen Architekten vor Ort lösen sich mehr und mehr dieser “baulichen Lücken” aus ihrer Starre und treiben den rasanten Aufschwung vor Ort in Instagram-Manier stetig voran.
Das Dodged House setzt in seiner architektonischen Gestaltung auf Raum, Leere und Innenvolumen – sozusagen die Effizienz der Landnutzung verweigernd. Von dem 94 qm großen Grundstück sind nur 40 bebaut. Dadurch wiederum ergibt sich eine Vielfalt von Innen- und Außenräumen, die sich in einen Innenhof erstrecken und die engen Räumlichkeiten umso luftiger und heller erscheinen lassen. Obwohl im Inneren herausragend, opulent und formgewandt ausformuliert, fügt sich die Fassade des Hauses beinahe schüchtern und zurückhaltend in den Straßenzug ein, bleibt dabei undurchdringlich.
[See image gallery at www.architektur-online.com] Fotos: Dylan Perrenoud
“Offensichtlich reagiert das Projekt auf die Komplexität der funktionalen Anforderungen, die das Haus in eine „Wohnmaschine“ verwandelt haben, und spielt ganz bewusst mit der Geschichte des Modernismus und seiner bewohnbaren Typologien. Obwohl das Gebäude komplex erscheinen mag, ist es doch recht einfach in seiner Art, den Raum zu besetzen und das Programm in ein kleines Grundstück zu packen.”
Daniel Zamarbide und Leopold Banchini
INFILL HOUSE & OFFICE | Darlinghurst, Australien
RAAarchitects verwandelten einen ehemaligen, nur 27 qm großen Stellplatz für ein Auto in den Baugrund für ein neues Wohnhaus, das über einen winzigen, mit goldenen und weißen Mosaikfliesen verkleideten gemeinsamen Innenhof mit dem bestehenden Bürogebäude verbunden ist. Während der Parkplatz beibehalten wurde, befinden sich darüber nun drei Etagen, die den Schlaf- und Badbereich, eine Koch- und Essebene sowie im obersten Stockwerk eine Lounge inklusive Außenterrasse mit Blick über die Stadt umfassen.
Das visuelle und räumliche Herzstück des Entwurfs ist die lasergeschnittene Stahlblechtreppe, die auf so wenig Platz wie möglich über ein Außen- und zwei Innengeschosse nach oben führt. Die blauen Mosaikfliesen an der Gassenfassade verweisen auf die Geschichte des Gebäudes als renommiertes Spa und Sauna in der Blütezeit der Oxford Street in den 1980er und 1990er Jahren. Und tatsächlich scheinen bei genauerer Betrachtung kleine Bläschen aus der Tiefe der Fassade emporzusteigen, um in Richtung “Wasseroberfläche” zu zerplatzen und in einem tiefen Blau zu zerfließen.
[See image gallery at www.architektur-online.com] Fotos: Brett Boardman
“Wir erwarten, dass das Gebäude die Umwandlung weiterer ungenutzter „Dienstleistungszonen“ in der Gegend anregen wird, um aktive und lebendige Gassenzonen zu schaffen.”
RAAarchitects
LOVE2 HOUSE | Tokio, Japan
TAKESHI HOSAKA ARCHITECTS schufen auf einer Fläche von nur 18.84 m2 im Zentrum von Tokio das neue Zuhause eines Paares, das dort trotz des geringen Flächenangebots auf nichts verzichten muss. Der Entwurf zelebriert scheinbar entgegen der urbanen Lage das Leben in und mit der natürlichen Umgebung. Zwei Oberlichter leiten das direkte Licht von Sonne und Mond in den Innenraum, auf der als Wohnraum gedachten Außenterrasse wird der Wechsel der Jahreszeiten an heißen, kalten, sonnigen, regnerischen und verschneiten Tagen sinnlich erlebbar.
Die Bewohner verstehen ihr Zuhause nicht als Minimierung, sondern als Maximierung des Überflusses auf kleinstem Raum: Überall im Haus sind gesammelte Schallplatten und Bücher aufgereiht, der Kräutergarten ist vom Esstisch aus zum Greifen nah. Innen und außen verschmelzen scheinbar, jeder Zentimeter ist sinnvoll genutzt und dennoch bietet das LOVE2 HOUSE mehr Freiraum als so manche überdimensionierte Villa auf der grünen Wiese.
[See image gallery at www.architektur-online.com] Fotos: Koji Fujii
“Eine Herausforderung bestand darin, dass Fahrzeuge die Straße vor dem Gebäude nicht befahren konnten und alle Baumaterialien von Hand getragen werden mussten. Für den Beton wurde ein 50 Meter langes Eisenrohr vorbereitet, durch das der Beton gepumpt wurde.”
TAKESHI HOSAKA ARCHITECTS
Text: Linda Pezzei