Neues Leben im Kraftwerk
Man nehme eine massive Portion Bestand, kombiniere sie mit Stahl und Glas und runde sie mit einer kräftigen Prise identitätsstiftender Kultur ab – das scheint das Erfolgsrezept von ARCity in Shenzhen gewesen zu sein. Das lokale Architekturstudio transformierte ein ehemaliges Kraftwerk in ein Gemeindezentrum und bediente sich dabei einer traditionellen, chinesischen Typologie: Nach dem Vorbild einer Ahnenhalle verwandelten sie die Shajing Village Hall in einen sozialen Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft.
Man nehme eine massive Portion Bestand, kombiniere sie mit Stahl und Glas und runde sie mit einer kräftigen Prise identitätsstiftender Kultur ab – das scheint das Erfolgsrezept von ARCity in Shenzhen gewesen zu sein. Das lokale Architekturstudio transformierte ein ehemaliges Kraftwerk in ein Gemeindezentrum und bediente sich dabei einer traditionellen, chinesischen Typologie: Nach dem Vorbild einer Ahnenhalle verwandelten sie die Shajing Village Hall in einen sozialen Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft.
Shajing war einst ein kleines Dorf im nördlichen Großraum der chinesischen Millionenmetropole. Heute ist es als Industriegebiet längst Teil der schnell wachsenden Stadt geworden. In den 1980er-Jahren entstand hier das Dieselkraftwerk Gangtou, welches die angrenzenden Viertel mit Strom versorgte. Nach der Betriebsaufgabe vor über einem Jahrzehnt wurde der Komplex geschlossen und verfiel seitdem immer mehr. 2019 sollte er abgerissen werden und an seiner Stelle der Oyster Township Lake Park entstehen. Anstatt die Ruine dem Erdboden gleich zu machen, entschied man sich schließlich dafür, diese zu revitalisieren und in den neuen Masterplan zu integrieren. Das Planerduo Yuxing Zhang und Jing Han entwickelte im Zuge dessen einen Entwurf, der die Reste des einstigen Kraftwerks – und mit ihnen ein Stück des industriellen Erbes von Shenzhen – bestmöglich erhält und sie mit kulturellem und spirituellem Wert auflädt.
Bei den Überbleibseln handelte es sich um strukturelle Beton- und Ziegelteile. Die massiven Fundamente, Balken und Säulen sowie vereinzelte Wände dienten als Grundlage für das Gemeindezentrum. Sie wurden verstärkt und um eine Reihe neuer Volumen und Anbauten aus schwarzem Metall und Glas ergänzt. Wo möglich, behielten die Architekten vorhandene Öffnungen bei, um sie „die Geschichte des Baus weitererzählen zu lassen“. Auch die alten Dachträger aus Stahl recycelte man und kombinierte sie mit einer neuen Tragkonstruktion. Um den Bau an das subtropische Klima anzupassen und den Energiebedarf zu minimieren, griff man außerdem zu passiven Maßnahmen: Zum einen wurden rund um das Gebäude flache Wasserbecken angelegt. Diese regulieren die Temperatur und sorgen je nach Blickwinkel für spannende Reflexionen. Zum anderen schuf man zusätzliche Durchbrüche und Außenterrassen, welche die Gebäudehülle aufbrechen und eine natürliche Belüftung ermöglichen.
Wie viele andere Dörfer am Rande von chinesischen Metropolen litt auch die soziale Infrastruktur von Shajing unter der raschen Industrialisierung und Urbanisierung. Vor allem Orte von spiritueller und kultureller Bedeutung wie Ahnenhallen und Tempel wurden oft nur noch von der älteren Generation genutzt, umfunktioniert oder verfielen sukzessive. Mit den traditionellen Bauwerken geriet auch der Ahnenkult – der seit jeher in ruralen Regionen von großer Bedeutung war – zunehmend in Vergessenheit. Das Planerteam wollte mit der Shajing Village Hall wieder einen solchen sozialen Mittelpunkt in der Gemeinschaft schaffen. Es interpretierte die alten Ahnenhallen auf moderne Weise und folgte dabei dem Aufbau der historischen Typologie: Meist besteht der Schrein aus drei größeren Trakten mit Eingangsbereich, Haupthalle und Nebenräumen, die ein Vorhof und ein Garten verbindet. Die einzelnen Elemente befinden sich hinter einer vorgesetzten Schattenwand (welche die Innenräume vor direkten Einblicken von außen schützt) und werden von zwei Korridoren flankiert. Anstatt die Funktionen – wie sonst üblich – linear anzuordnen, orientierten sich Zhang und Han von ARCity an den Grenzen der Industrieruine und ordneten die räumlichen Elemente freier an.
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Das Herzstück des Gemeindezentrums bildet die 17 m hohe Haupthalle. Sie wird von aufgeständerten Galerien eingefasst und öffnet sich über einen runden, verglasten Ausschnitt zu einem der Innenhöfe. Dieses sogenannte „Mondtor“ hat einen Durchmesser von 9 m. Das kreisförmige Fenster ist ein charakteristisches, architektonisches Element der südostchinesischen Küstenprovinz Guangdong, welches sich in vielen Häusern und Gärten wiederfindet. Es bringt Licht ins Innere und lenkt den Blick ins Freie. Die große Ost- und Westfassade führte man in einer schwarzen Lochblech-Struktur aus. Durch sie fallen die Sonnenstrahlen diffus herein und wecken Assoziationen an die Textur der originalen Backsteinwände. Sämtliche Installationen wurden freiliegend in das industrielle Design eingebunden.
Ein Zirkulationssystem aus Korridoren, Treppen, Stegen und Plattformen umrundet den Bau auf mehreren Ebenen. Es führt abwechselnd durch Innen- und Außenflächen und soll den entstandenen Raum zur interaktiven 3D-Galerie machen. Besucher können sich auf dem Rundgang auf eine Entdeckungsreise durch Vergangenheit und Zukunft begeben. An den Querseiten der großen Halle entstanden, eingefasst von den Betonrahmen, zwei Gärten. In einem von ihnen dreht sich alles um das Spiel von Licht und Schatten. Den anderen – den Ruinengarten – überspannen neue Stahlträger. Ihn prägen die bestehenden Gebäudeteile sowie punktuell verteilte Gabionenwände, die mit recycelten Steinen und Ziegeln des Abrisses gefüllt wurden. Zwischen den Mauern schlängeln sich von Pflanzen gesäumte Pfade durch die Freiflächen.
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Umgeben vom Maozhou-Fluss und dem Oyster Township Lake Park entsteht rund um das einstige Kraftwerk ein urbaner Naherholungsraum mit Platz für Freizeit, Kultur, Kreativität und Austausch. Mit seinem bunt gemischten Programm soll das Gemeindezentrum Jung und Alt gleichermaßen anlocken und wie eine moderne Dorfhalle künftig zur spirituellen, kulturellen und sozialen Mitte der angrenzenden Viertel werden. Die frei bespielbaren Flächen warten nur darauf, von Veranstaltungen, Zeremonien und Ausstellungen mit neuem Leben erfüllt zu werden. Das Projekt zeigt eindrucksvoll, wie man leerstehende Industriebauten wie Fabriken und Lagerhallen neu bespielen und mit Mehrwert aufladen kann. ARCity sah in der industriellen Ruine nicht nur den Prozess des Verfalls, sondern vielmehr das Potenzial für additives und subtraktives Wachstum. Die Architekten erhielten und erweiterten, sie reparierten, adaptierten, tauschten aus und nahmen weg. Das Ergebnis ist ein raffiniertes Patchwork, welches die Shajing Village Hall zum gemeinschaftlichen Anlaufpunkt macht – und hoffentlich den Anstoß für weitere Revitalisierungs- und Sanierungsprojekte dieser Art gibt.
Shajing Village Hall
Shenzhen, China
Bauherr: Shenzhen Baoan District Shajing Street Office, China Resources Land Group
Planung: ARCity Office (Yuxing Zhang und Jing Han)
Landschaftsplanung: Reasonable Fantasy Group
Technische Partner: Beijing Zhenghe Hengji Waterfront Ecological Environment Management
Shanghai Urban Construction Design and Research Institute
Translate Land & Associates
Lichtplanung: HDA Shenzhen Handu Lighting Design Consultant
Fläche: 2.500 m2
Fertigstellung: Dez. 2020
Text: EdinaObermoser
Fotos: Yu Bai