Radikal recycelt
Das Recyclinghaus Hannover von CITYFÖRSTER ist ein experimentelles Wohnhaus, das aus gebrauchten, recycelten und recyclingfähigen Bauteilen in recyclinggerechter Bauweise erstellt wurde. Das Konzept beruht auf dem Verständnis des vorhandenen Gebäudebestands als einem riesigen Rohstofflager sowie der Prämisse, dass dem Recycling von Baustoffen und Materialien sowie recyclinggerechten Bauweisen in Zukunft eine immer wichtigere Rolle zukommen wird.
Das Recyclinghaus Hannover von CITYFÖRSTER ist ein experimentelles Wohnhaus, das aus gebrauchten, recycelten und recyclingfähigen Bauteilen in recyclinggerechter Bauweise erstellt wurde. Das Konzept beruht auf dem Verständnis des vorhandenen Gebäudebestands als einem riesigen Rohstofflager sowie der Prämisse, dass dem Recycling von Baustoffen und Materialien sowie recyclinggerechten Bauweisen in Zukunft eine immer wichtigere Rolle zukommen wird.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Je 50 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs sowie Müllaufkommens, dazu 40 Prozent des globalen Energieverbrauchs und ein Drittel des Wasserverbrauchs auf der Erde gehen auf das Konto des Bausektors. Grund genug für Architekt Nils Nolting über zeitgemäße Antworten auf dieses Dilemma nachzudenken. Der geschäftsführende Partner des innovativen und disziplinübergreifenden Planungsbüros CITYFÖRSTER architecture + urbanism in Hannover hat (s)eine Lösung in dem Recyclinghaus Hannover gefunden, das zurecht bereits zahlreiche Awards und Nominierungen für sich verbuchen kann.
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Das experimentelle Wohnhaus im hannoverschen Stadtteil Kronsberg stellt einen Prototypen dar, der die Möglichkeiten und Potenziale verschiedenster Arten von Recycling im Reallabor austestet und einen kreislauforientierten und ressourcenschonenden Planungsansatz aufzeigt. Aufgrund eines bis dato wohl einmalig konsequenten Einsatzes von Recycling- und Gebrauchtmaterialien konnte die „graue Energie“ im Herstellungsprozess im Vergleich zu herkömmlichen Wohnhäusern erheblich reduziert werden. Einen weiteren Schlüssel zu ökologischem Bauen sieht Nolting in der Einfachheit und Reduktion und auch der Weiternutzung und Transformation von bestehenden Strukturen.
Während im Normalfall verschiedene Baustoffproduzenten ihre neuesten Produkterrungenschaften aus aller Welt auf die Baustelle liefern, hat man sich im Falle des Recyclinghauses auf möglichst lokale und gebrauchte Rohstoffe verlassen. Zur “Bauteilernte” wurden vorrangig die Gebäudebestände der ortsansässigen Bauherrin herangezogen: dem Wohnungs- und Bauunternehmen GUNDLACH. Daneben setzten die Planer bei der vollständig rückbaubaren Konstruktion des leimfreien Massivholzrohbaus auf industriell recycelte und frei auf dem Baustoffmarkt verfügbare Materialien wie Schaumglasschotter, -granulat und -platten, aber auch verschiedene Recyclingsplitte oder eine Fassadendämmung aus aufbereiteten Kakaobohnen-Jutesäcken. Für die Gründung aus Recyclingbeton wurde gar erstmals in Niedersachsen eine Zulassung erwirkt.
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Aufgrund der Verwendung weitgehend lokal im Raum Hannover gewonnener, gebrauchter Bauteile konnten zum einen die Transportwege extrem kurz gehalten und zum anderen, im Sinne einer kreislaufgerechten Baustellenorganisation, unnötige Mülltransporte vermieden werden. Nahezu alle während des Bauprozesses angefallenen Materialreste wurden letztlich verbaut. Eine solche Herangehensweise erfordert freilich ein extrem hohes Maß an Flexibilität und Kreativität der Architekten und ausführenden Firmen, aber eben auch Offenheit und ehrliches Commitment seitens der Bauherrschaft.
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In Bezug auf Energie und Haustechnik konnte der lokal geforderte Klimaschutzstandard „Kronsberg“ erzielt werden. Dieser sieht sowohl einen Verzicht umweltschädlicher Baumaterialien wie auch einen energetischen Standard des KfW-Effizienzhauses 55 oder besser vor. Um dies zu erreichen, wird das Recyclinghaus mittels einer Luft-Wasser-Wärmepumpe mit solarthermischer Unterstützung für Warmwasser sowie einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage mit einer Wärmerückgewinnung von 96 Prozent beheizt. Der sehr gute Energiestandard konnte überraschenderweise trotz der umfassenden Verwendung gebrauchter Bauteile gewährleistet werden.
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Die Nutzer dieses Modellprojekts könnten eine Familie sein oder auch eine Wohngemeinschaft. Im Erdgeschoss befinden sich ein Eingangsbereich mit Garderobe und WC, ein offener Wohn-, Küchen- und Essbereich sowie ein Individual- und der Hauswirtschaftsraum. Das Obergeschoss bietet Platz für ein Bad und drei Schlafzimmer. Je nach Anforderung kann der Raum des Dachgeschosses schließlich als Gemeinschaftsbereich oder weiteres Zimmer genutzt werden. Hinzu kommen ein Bad und eine Dachterrasse, die einen Weitblick über den Kronsberg bis hin zu Messegelände und Deister bietet. Alle Einzelräume wurden zugunsten der Gemeinschaftsflächen so klein und kompakt wie möglich konzipiert. Raumhohe Innentüren sowie Fenster ohne Stürze unterstützen das großzügige Raumgefühl, das mehr Fläche suggeriert, als tatsächlich in nüchternen Zahlen auf dem Plan zu verzeichnen ist. Zu den gut 155 Quadratmetern Wohnfläche kommt allerdings noch ein Carport hinzu.
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Der radikale Materialeinsatz verleiht dem Recyclinghaus eine besonders charmante und warme Atmosphäre. Der Stilmix mag zwar auf den ersten Blick eher alternativ anmuten, wirkt bei genauerem Hinsehen aber gar nicht bunt und wild, sondern auf eine ganz eigene Weise bewusst durchdacht und detailliert ausformuliert. Die Schlichtheit und Ruhe der Einbaumöbel, das schnörkellose Design der Oberflächen in Kombination mit den klaren Formen der Architektur bilden das perfekte Pendant zu den zufällig vorgefundenen Vintage-Objekten und recycelten Materialien, die jedes für sich eine eigene Geschichte zu erzählen vermögen, wenn man genau hinhören will.
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Optisches Highlight im Außenbereich ist eindeutig die markante Fassade aus Gebrauchtmaterialien: Aluminiumfenster koexistieren im Einvernehmen mit nachbeschichteten Eternitplatten und fügen sich mit Profilbauglas und Wellblech zu einem stimmigen Gesamtbild. Dazu gesellt sich eine Holzfassade aus alten Saunabänken. Im Inneren wird dieser spannende Zusammenprall konsequent weitergeführt: Innenwände aus Abbruchziegeln, ein Boden in Terrazzo “Opus Signium” mit Ziegelsplittzuschlag, Einbaumöbel aus gebrauchten Messebauplatten und daneben ein Esstisch aus Restmaterialien der Baustelle. Gleich im Anschluss eine historische Bauernhaustür und in den Bädern Wände verkleidet mit einem Mosaik aus gebrauchten Kronkorken und Waschbecken aus ausgedienten Saunaaufgussbecken.
Ein Prototyp, der überzeugt und geneigte BauherrInnen dazu anregen und inspirieren soll, selbst Baumaterial zu ernten, zu sammeln und neu zusammenzufügen. Kein massentaugliches Einfamilienhaus, aber ein zukunftsweisendes Projekt, das den Horizont erweitert und beweist, wie weit Recycling im Bau wirklich gehen kann.
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Recyclinghaus
Hannover, Deutschland
Bauherr: Gundlach GmbH & Co. KG Wohnungsunternehmen
Planung: CITYFÖRSTER architecture + urbanism PartGmbB
Mitarbeiter: Nils Nolting, Verena Brehm
Statik: Drewes + Speth – Beratende Ingenieure im Bauwesen
Grundstücksfläche: 290 m2
Bebaute Fläche: 99,9 m2
Nutzfläche: 155,72 m2 (Wohnfläche)
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 04/2018 – 07/2019
Fertigstellung: 07/2019
Baukosten: 775.000 Euro
“Wir sind spezialisiert auf strategische Planungen, internationale Entwicklungsprojekte und experimentelles, ressourcen- und recyclinggerechtes Bauen. Unsere Themen sind neue Arbeitswelten und Wohnformen, pädagogische Architektur, nachhaltiger Tourismus, öffentliche Räume und innovative Mobilitätskonzepte.“
Nils Nolting, Gründungspartner von CITYFÖRSTER architecture + urbanism und geschäftsführender Partner des Büros in Hannover
Text: Linda Pezzei
Fotos: Olaf Mahlstedt