Das 9. NEXT Expertenforum beleuchtet zirkuläre Konzepte für das Bauen der Zukunft
Was tun führende Hersteller der Baubranche, um das EU-weite Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen? Was können Projektentwickler, Architekten und Baubeteiligte konkret tun, um bei ihren Projekten gezielt CO2-Emissionen zu reduzieren? All dies und mehr diskutierten renommierte Experten im Rahmen des 9. NEXT Expertenforums am 10. Oktober 2024 im NEXT Studio in Frankfurt. […]
Was tun führende Hersteller der Baubranche, um das EU-weite Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen? Was können Projektentwickler, Architekten und Baubeteiligte konkret tun, um bei ihren Projekten gezielt CO2-Emissionen zu reduzieren? All dies und mehr diskutierten renommierte Experten im Rahmen des 9. NEXT Expertenforums am 10. Oktober 2024 im NEXT Studio in Frankfurt.
Die Akteure des 9. NEXT Expertenforum zum „Zirkulären Bauen“ im NEXT Studio (v. l. n. r.): Moritz Feid (Saint Gobain Glass), Philipp Müller (Hydro Building Systems), Dr. Christine Lemaitre (DGNB), Moderator Christian Mettlach (WICONA), Martin Pauli (Arup), Gerhard Feldmeyer (Madaster Foundation), Dominik Füreder (voestalpine Stahl), Dr.-Ing. Ira Brückner (Heidelberg Materials).
Gesamt-Lebenszyklus-Emissionen in den Fokus rücken
Moderiert von Christian Mettlach (NEXT Studio Manager bei WICONA), kamen im NEXT Studio erstmals Vorreiter aus der Bau- und Nachhaltigkeitsbranche zusammen, um ihre Strategien und konkrete Lösungsansätze für das Bauen der Zukunft vorzustellen. Dabei ging es vor allem um einen praxisorientierten Dialog und einen Überblick zum Status-Quo der einzelnen Industriezweige.
Zum Start skizzierte Martin Pauli, Director and Global Leader Circular Economy Services bei Arup, einen pragmatischen Blick auf das zirkuläre Bauen weltweit. Wichtig sei, die gesamten Lebenszyklus-Emissionen („Whole Life Carbon“) in den Fokus zu rücken. Als positives Beispiel nannte Martin Pauli Dänemark: Hier sei es seit 2023 gesetzlich vorgeschrieben, bei Neubauten die CO2-Emissionen über den gesamten Lebenszyklus zu bilanzieren. Um die CO2-Reduktion zu beschleunigen, sind nach Ansicht des Experten drei Faktoren entscheidend: Materialien einsparen, Materialien substituieren und – ganz wichtig – der systematische Wandel hin zur Wiederverwertung und zum zirkulären Bauen. Sein Fazit: „Die Prozesse, Instrumente und Technologien sind da. Wir müssen jetzt schleunigst die CO2-Ziele in den Fokus nehmen. Dazu brauchen wir aber klare Zielvorgaben der Politik.“
Gleichwertiges Flachglas-Recycling statt Downcycling
Einen interessanten Einblick in die Nachhaltigkeits-Bestrebungen der Glassparte von Saint-Gobain gab Moritz Feid (Head of Circular Economy Saint-Gobain Deutschland). Dabei wies der Referent auf die Wichtigkeit des Scherben-Einsatzes in der Flachglas-Herstellung hin. Dieser leiste – wie sich bei dem bereits im Markt eingeführten Glas ORAÉ zeigt – einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung von CO2-Emissionen und schone Ressourcen. Ziel bei Saint-Gobain sei es daher, bis 2030 den Anteil von Scherben im Basisglas auf 40 % zu erhöhen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Scherbenmarkt – insbesondere für Post-Consumer-Scherben – drastisch ausgebaut werden. Hier komme es vor allem auf effektive Rücknahmesystem entlang der Wertschöpfungskette an. Nicht zuletzt wies Moritz Feid auf ein zentrales Problem des Glasrecyclings hin: das Kontaminationsrisiko durch zum Beispiel Glaskeramik sowie Verunreinigungen durch Erde. „Wir setzen hier neueste Technologien ein und verfolgen ein striktes Qualitätsmanagement.“
Das Interesse aus der Branche war auch diesmal wieder sehr groß und die Teilnehmer konnten wertvolle Impulse und Anregungen mit nach Hause nehmen.
Wertvolle Baustoffe aus dem Bestand im Kreislauf halten
Philipp Müller (Senior Sustainability Specialist bei Hydro Building Systems) beleuchtete die Dekarbonisierungs-Konzepte des international agierenden Aluminium-Herstellers Hydro, zu dem auch die Marke WICONA gehört. Kreislauffähige Aluminiumsysteme – so der Referent – minimieren den CO2-Fußabdruck von Bauprojekten und werden somit für Investoren und Bauherren auch zum Schlüsselfaktor für die Gebäudebewertung und -abschreibung. Hier habe sich Hydro ganzheitlich nachhaltig aufgestellt. „Wir lassen die gesamte Wertschöpfungskette nach ASI (Aluminium Stewardship Initiative) zertifizieren und haben mit Hydro CIRCAL eine Legierung, welche aus bis zu 100 % End-of-Life-Aluminium besteht.“ Zudem biete das Unternehmen dynamische Umweltprodukt-deklarationen (EPD) für eine projektbezogene Bewertung. Für die Baupraxis wünscht sich Philipp Müller mehr Sensibilität für das zirkuläre Bauen: „Wir brauchen eine pro-zirkuläre Kommunikation bei Projekten, um eine kontrollierte Demontage zu erreichen und wertvolle Baustoffe aus dem Bestand im Kreislauf zu halten.“
Nachhaltigkeit als stetiger Zielkonflikt
Dr. Christine Lemaitre (Geschäftsführender Vorstand und CEO bei der DGNB) sieht das Thema Nachhaltigkeit in der Baubranche „zwischen Aufbruchstimmung und dem Zwang zum Handeln“. Letztendlich sei die Nachhaltigkeit immer ein Zielkonflikt, mit dem alle Projektbeteiligten im Sinne eines ehrlichen Erwartungsmanagements umgehen müssen. Darüber hinaus räumte die Expertin mit einem alten Vorurteil auf: „Nachhaltigkeit ist nicht teurer – es gibt keinen Zusammenhang zwischen Baukosten und Nachhaltigkeits-qualität.“ Es komme vielmehr auf die richtigen Prioritäten bei der Planung an. Die DGNB stelle für alle Anforderungen des zirkulären und nachhaltigen Bauens entsprechende Instrumente – zum Beispiel zur Erstellung einer Ökobilanz oder einer Lebenszyklusbetrachtung – und Zertifizierungssysteme bereit. Ein gutes Beispiel: das DGNB System für den Gebäuderückbau.
Weltweit erster Zement mit „Net-Zero-Footprint“
Im Anschluss sprach Dr.-Ing. Ira Brückner als Head of Sustainability Strategy & Engagement von Heidelberg Materials über die Anstrengungen des weltweit tätigen Baustoffunternehmens, den CO2– und Material-Kreislauf zu schließen. Insbesondere die das Trennverfahren sei eine große Herausforderung – doch man habe bereits eine zukunftsweisende Lösung entwickelt. Die im norwegischen Brevik angewandte Technologie zur CO₂-Abscheidung (Carbon Capture) habe das Potenzial, die Zementproduktion zu verändern und damit einen neuen Maßstab in der CO₂-Reduktion zu setzen. Sobald die neue Anlage in Betrieb gehe, wird sie jährlich 400.000 Tonnen CO2 abscheiden, was 50 % der Emissionen des Werks entspricht. Der dort produzierte Zement (evoZero) erreiche dann einen „Net-Zero-Footprint“ über den kompletten Lebenszyklus, so die Referentin.
Nach Ende des Fachprogramms nutzten die Anwesenden die Möglichkeit zum ausgiebigen Netzwerken.
Grünstrombetriebenen Elektrolichtbogenofen für die Stahlproduktion
Dominik Füreder, Sustainability Manager bei voestalpine Stahl, berichtete von den großen Herausforderungen in der Stahlindustrie bei der Technologieumstellung hin zu einer grünen Produktion. Voestalpine nehme hier eine Vorreiterrolle ein und habe einen ambitionierten Stufenplan für eine grüne Stahlproduktion entwickelt. Im ersten Schritt errichtet das Unternehmen je einen grünstrombetriebenen Elektrolichtbogenofen in Linz und Donawitz – so werden ab 2027 jährlich ca. 2,5 Mio. Tonnen CO2-reduzierter Stahl produziert. Um das Ziel einer Stahlproduktion mit Net-Zero-CO2-Emissionen bis 2050 zu erreichen, sind zudem die massive Erweiterung der Schrott-Logistik und die Erhöhung des Pre-Consumer Schrotts in allen Produkten sowie – sobald möglich – eine wasserstoffbasierte bzw. elektrifizierte Stahlproduktion geplant.
Digitales Materialkataster als „Single Source of Truth“
Abschließend referierte Architekt Gerhard Feldmeyer über das zirkuläre Bauen aus seiner Perspektive als Botschafter der Madaster Foundation. In der zirkulären Immobilienwirtschaft sei die Datenbasis für Neubauten entscheidend – und diese biete Madaster als digitales Materialkataster und „Single Source of Truth“. Eine solche Datenbasis unterstütze nicht nur den Rückbau, sondern helfe auch während des Betriebs – bei Mieterwechseln, Renovierungen, Verkäufen und beim Reporting. Gerhard Feldmayer: „Unser Ziel muss sein, von der gebauten Schadstoffdeponie hin zum Rohstofflager zu gelangen. Durch einfachere Bauweisen und flexible Nutzungskonzepte wird das zirkuläre Bauen erleichtert.“ Eine Idee: Gebäude sollten so konzipiert werden, dass sie für unterschiedliche Nutzungsarten offenbleiben. Gleichzeitig müsse man von dem Anspruch, jedes Detail – bis zum letzten Lichtschalter – 100 % zirkulär zu gestalten, abrücken und Projekte realistischer angehen.
Fotos: Mediashots/WICONA