Haus in einer Ruine

Als ORA vor der Aufgabe standen, die Ruine eines alten Gehöfts in der tschechischen Provinz neu zu beleben, entschieden sich die Architekten gemeinsam mit dem Bauherren bewusst gegen eine Rekonstruktion. Da ein Abriss ebenso wenig in Frage kam, lautete die Lösung: Haus im Haus. Entstanden ist ein atmosphärisch packendes Wohnobjekt, das Alt und Neu auf gelungene Weise verbindet und dabei jedem Part seinen Raum lässt.

Haus in einer Ruine

Als ORA vor der Aufgabe standen, die Ruine eines alten Gehöfts in der tschechischen Provinz neu zu beleben, entschieden sich die Architekten gemeinsam mit dem Bauherren bewusst gegen eine Rekonstruktion. Da ein Abriss ebenso wenig in Frage kam, lautete die Lösung: Haus im Haus. Entstanden ist ein atmosphärisch packendes Wohnobjekt, das Alt und Neu auf gelungene Weise verbindet und dabei jedem Part seinen Raum lässt.

 

Haus in einer Ruine von ORA

 

Das Wirkungs- und Schaffensfeld von ORA Architekten liegt im beschaulichen südmährischen Znojmo (Znaim), einer lebendigen Kleinstadt in Tschechien, auf halbem Wege zwischen Brno (Brünn) und Wien gelegen. Dieses ländlich geprägte Spannungsfeld zwischen Dorf und Metropole ist eben jenes Terrain, auf dem sich die jungen Architekten bei ihrer Arbeit am wohlsten fühlen. In diesem Kontext realisiert das Kreativ-Team daher auch die meisten seiner Projekte, die von Architektur über Raumausstattung und Landschaftsgestaltung bis hin zum Produktdesign reichen.

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Als das Team 2016 von einem privaten Bauherrn damit beauftragt wurde, ein ehemaliges Gehöft in einem kleinen Dorf in der Nähe von Olomouc (Olmütz) zu restaurieren, standen die Architekten zunächst vor einem Dilemma. Auf den ersten Blick war da offensichtlich nur noch eine Ruine bestehend aus Ziegelwänden und einem Dach zu erkennen, der zweite Blick offenbarte allerdings einiges an Potential. Das Anwesen war während des kommunistischen Regimes zu einem Getreidespeicher umgebaut, später geplündert und schließlich für andere Zwecke wieder neu ausgebaut worden. Zum Glück der Architekten hatte das Haus in seiner Substanz dabei nichts von seiner stattlichen Größe und ursprünglichen Ausformung verloren. Trotz der baulichen Qualität fanden ORA letztendlich nur noch das magere Gerippe eines einstmals selbstbewussten Bauwerks vor. Der Versuch einer Rekonstruktion hätte diesen Eindruck wohl letztlich vollends zerstört. So entschieden sich Bauherr und Architekten für die Umsetzung eines “Haus im Haus”, dem Neubau von einem Haus in einer Ruine.

 

Haus in einer Ruine von ORA

 

In Folge wurde die Ruine vollständig entkernt und das neue Bauwerk der Fassade entsprechend dreigeschossig konzipiert. Das Bestandsmauerwerk wurde ohne viel Aufhebens wo nötig um weitere großzügige Öffnungen ergänzt, um den neuen Wohnraum so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Ruine diente den Architekten von Anfang an weniger als Korsett, denn als lockerer “Überwurf”. Auf diese Weise bleibt die Ruine für den Betrachter heute von außen wie eh und je wahrnehmbar und es lässt sich (zumindest aus der Ferne) nur vermuten, dass sich hinter dem alten Ziegelmauerwerk mittlerweile ein modernes, wärmegedämmtes Gebäude befindet, das allen aktuellen Energiestandards gerecht wird.

 

Haus in einer Ruine von ORA

 

Eine weitere Besonderheit erschließt sich dem Betrachter dann auch erst beim Betreten des Hauses. Die trotz ihres hohen Alters noch immer soliden Bestands-Holzbalken finden in der neuen Tragwerksstruktur Wiederverwendung. Überhaupt wurde der Großteil des vorhandenen Materials vom Abriss für den Neubau wiederverwendet. Der gesamte Innenraum ist sehr luftig und offen gestaltet und lebt von den Ebenensprüngen, Blickverbindungen und überraschenden Ein- und Ausblicken, die sich an jeder Ecke wieder bieten. Betrachtet man das ehemalige Gehöft als Zeitzeugen mit vielen verschiedenen (Erzähl-) Ebenen, so haben die Architekten dieser imaginären Zeitleiste mit dem Einziehen einer neuen Ebene auch einen neuen Erzählstrang auf physischer Ebene hinzugefügt. Denn deren Zweck unterscheidet sich von allen in den vorangegangenen Jahrzehnten vorgenommenen Adaptionen.

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Zwischen der neuen Struktur und dem Bestandsgemäuer wurde ein belüfteter Spalt geschaffen, sodass sich Neu und Alt zum Greifen nah niemals berühren können. Als besonderer Kniff überlagern sich die Strukturen nicht an allen Ebenen exakt, vielmehr ist die neue Ebene teils leicht verschoben gegenüber dem Bestand. Auf diese Weise entsteht eine gewisse Unschärfe – an einer Stelle passen die Fenster nicht exakt übereinander, an einer anderen tritt das Bestandsmauerwerk plötzlich und überraschend in den neuen Wohnraum. Durch diese Überlagerung gewinnt das gesamte Objekt an Atmosphäre, Charme und Charakter – Zeit- und Erzählebenen beginnen sich zu überlagern und es ist auf einmal doch nicht mehr ganz so leicht, eine exakte Grenze zwischen Neu und Alt zu ziehen. Verschmelzen die neuen Öffnungen mit dem alten Mauerwerk? Oder verschafft sich die Ruine durch die neuen Fenster Zugang zum Hier und Jetzt? Es entsteht eine fast mystische, poetische Stimmung – wenn man es denn zulassen möchte.

 

Haus in einer Ruine von ORA

 

ORA sehen ihr “Haus in einer Ruine” selbst als ein Manifest, wie man alten Bauwerken (auch) begegnen kann. Weder muss ein bröckelnder Altbau komplett abgerissen, noch dogmatisch bis ins kleinste Detail rekonstruiert werden, um dessen alternde Schönheit zu bewahren. Auf diese Weise ist es sogar möglich, mit Hilfe moderner Materialien nachhaltig und wirtschaftlich zu bauen und so qualitativen Wohnraum mit Zukunftsnutzen zu schaffen. Dieser Gestaltungswille hört bei den Architekten aber nicht an der Haustür auf. So wurde der zum Haus gehörende weitläufige Garten ebenso feinfühlig und zurückhaltend gestaltet wie die Innenräume. So wie Innen- und Außenraum ineinanderfließen, so bilden Garten- und Naturlandschaft eine fließende Einheit. Kein Zaun, keine Markierung, keine physische Grenze lässt das schweifende Auge erkennen, wo der Grund aufhört und die freie Natur beginnt. Erst bei näherer Betrachtung zeugen Fragmente niedriger Mauern von dem Versuch, Privat- und Allgemeingrund abzutrennen. Es scheint fast so, als seien die Obstbäume, Wiesen und Weißdornbüsche von der Natur nur geliehen, der Garten wird zum verbindenden Element zwischen dem Haus, der Aussicht und der umgebenden Landschaft.

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Man stellt sich das Leben in diesem Haus fröhlich, frei und unbeschwert vor. Bewohner und Gäste treffen sich in dem großzügigen und überhöhten Wohnbereich zum Essen, Feiern und gemütlichen Beisammensein. Im Winter spendet der Ofen behagliche Wärme, im Sommer weht bei geöffneten Fenstern eine leichte Brise durch den Raum. Die Küche dient – als Teil des Raums – gleichzeitig als Treffpunkt für Kommunikation und Austausch, hier wird Genuss zelebriert, frisch vom Garten auf den Tisch. Trotz dieser romantischen Anmutung muss dabei niemand auf die modernen Annehmlichkeiten unserer Zeit verzichten. Die Zimmer verfügen alle über ein eigenes Bad und sind stille Rückzugsorte für die Bewohner: Beim Blick auf die Weite der Landschaft, nur gerahmt durch das massive Ziegelmauerwerk, dürfen die Gedanken schweifen … und sich wieder sammeln beim gemeinsamen Essen an dem großen Tisch im Freien, mitten auf der Wiese, mitten in der Landschaft.

 

Haus in einer Ruine von ORA

 

Besonders stimmungsvoll zeigt sich die “Ruine” dann, wenn es dunkel wird und das neue Haus in warmem Lichtschein verschwommen durch die Öffnungen nach außen strahlt. Das ist vielleicht der Moment, an dem Alt und Neu untrennbar verbunden scheinen und nicht mehr auszumachen ist, was zuerst da war.

 

 

House inside a Ruin
Jevíčko, Zadní Arnoštov, Tschechien

Bauherr: Privat
Planung: ORA
Mitarbeiter: Jan Hora, Barbora Hora, Jan Veisser
Statik: Statika 3 Structure s.r.o., Patrik Štancl, Lukáš Záruba, Pavel Tesař
Landschaftsplanung: Štěpánka Černá

Bebaute Fläche: 249.7 m2
Nutzfläche: 248.4 m2
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 2018-2020
Fertigstellung: 2020

 

 

ORA Architects

 

“Unser Büro liegt in einer kleinen Stadt in der tschechisch-mährischen Peripherie. In diesem Wirkungsfeld befinden sich auch die meisten unserer Projekte. Wir versuchen immer, so wenig wie möglich in bestehende Strukturen einzugreifen, arbeiten am liebsten kontextbezogen und suchen nach Wegen, das Neue mit dem Alten in Einklang zu bringen, um die Fragmente der Erinnerung an den Orten zu bewahren. Wir gestalten aber auch Neues, denn wir sehen gerne, wie Dinge entstehen. Wir stehen für eine ursprüngliche, regionale Architektursprache.”

 ORA

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: BoysPlayNice