Auf den zweiten Blick
Wenn es sich lohnt, einen Blick hinter die Fassade zu werfen: Mit "Der Eisberg" haben die Berliner rundzwei Architekten eine Baulücke mit einem Wohngebäude in Niedrigenergiestandard geschlossen, das neben puristischer Ästhetik eine Menge an inneren Werten vorzuweisen hat. Vorfertigung, lokale und nachhaltige Materialien sowie räumliche Qualität machen dieses Wohnobjekt im Herzen Berlins zu einem echten Hingucker.
Wenn es sich lohnt, einen Blick hinter die Fassade zu werfen: Mit “Der Eisberg” haben die Berliner rundzwei Architekten eine Baulücke mit einem Wohngebäude in Niedrigenergiestandard geschlossen, das neben puristischer Ästhetik eine Menge an inneren Werten vorzuweisen hat. Vorfertigung, lokale und nachhaltige Materialien sowie räumliche Qualität machen dieses Wohnobjekt im Herzen Berlins zu einem echten Hingucker.
Man könnte sagen, ein typischer Berliner: Kantig, cool und etwas verschlossen – so präsentiert sich der mehrgeschossige Wohnbau, der von den ortsansässigen rundzwei Architekten in eine Baulücke im Stadtteil Tiergarten integriert wurde. Doch oft bewährt und wie der Projektname “Der Eisberg” ja auch zu suggerieren scheint – ein zweiter Blick lohnt sich allemal, denn hinter dieser äußerst schicken Fassade verbirgt sich viel mehr, als der erste Eindruck zu vermitteln vermag.
Wie so oft beim innerstädtischen Bauen und Nachverdichten stand auch am Anfang dieses Projekts die Baufläche im Mittelpunkt der Betrachtung der Architekten. Zwischen Arminiusmarkthalle und Schultheiss Quartier gelegen, befindet sich das Wohnhaus im Herzen Moabits, einem lebendigen Stadtviertel Berlins, das auf seine Weise boomt, ohne dabei (glücklicherweise) jemals wirklich hip zu werden. Wie in jeder Großstadt ist auch die Baufläche in den Berliner Kiezen knapp bemessen, die Nachfrage nach leistbarem Wohnraum hingegen ungebremst hoch. Der ambitionierte Plan: Auf nur 100 m2 Grundfläche sollten in der schmalen Baulücke elf neue Mietwohnungen entstehen.
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Dank der kreativen Annäherung des Architekten-Teams rund um Marc Dufour-Feronce & Andreas Reeg konnte die Flächenausnutzung optimal maximiert werden. Die pragmatische Herangehensweise erzielte das baurechtlich größtmögliche Gebäudevolumen – ein Konzept, das auch bei der Gestaltung der Grundrisse und Fassaden architektonisch konsequent weiterentwickelt wurde: Straßenseitig vergrößert ein geschwungener Erker die Wohnungen, hofseitig wurden der Treppenkern sowie der Fahrstuhl aus dem Volumen herausgenommen und in den Hof hinein verschoben.
Entstanden ist ein Niedrigenergiehaus mit neun barrierearmen Wohneinheiten, die vom Erdgeschoss bis zum vierten Obergeschoss in Form von Zwei-Zimmer-Mietwohnungen mit jeweils etwa 55 m2 Nutzfläche eingeplant wurden. Nord- und Südfassade sind durch loftartig ausgebildete Koch-, Ess- und Wohnbereiche verbunden, was eine Querlüftung ermöglicht und – für den Berliner Blockwohnungsbau eher untypisch – Ausblicke in beide Richtungen bietet. Alle Wohnungen verfügen zudem über direkt an das Schlafzimmer anschließende Bäder sowie einen separaten Hauswirtschaftsraum.
Das fünfte und sechste Obergeschoss bildet sozusagen die Spitze des Eisbergs. Die Besonderheit der zwei Maisonette-Mietwohnungen mit jeweils 96 m2 Nutzfläche stellt der zum Hof hin orientierte Koch-, Ess- und Wohnbereich mit seiner doppelten Raumhöhe dar. Zusätzlich innerstädtischer Luxus in Altbaulage: Alle Wohnungen sind über einen Aufzug stufenlos erreichbar. Schöner Nebeneffekt: maximale Offenheit, viel Licht und großzügige Balkone.
In der Umsetzung entschieden sich die Planer für die Holz-Hybrid-Bauweise, die größtenteils auf wiederverwertbaren Materialien basiert. Auch dank größtmöglicher Vorfertigung ab Werk konnte der Bauprozess erheblich beschleunigt werden. Der Holzskelettbau setzt sich in seinen konstruktiven Einzelteilen aus tragenden Vollholzdecken, Fassadenelementen in Holztafelbauweise, Kalksandstein- und Stahlbetonwänden sowie Stahl- und Holzstützen zusammen. Durch die statischen Aufbauten der Wände und Dächer erreicht das Gebäude den Niedrigenergie-Standard (KfW 55).
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Um eine natürliche Klimatisierung zu erreichen und gleichzeitig späteren Bauschäden mangels fachgerecht durchgeführter Lüftung vorzubeugen, setzten die Architekten auf feuchtigkeitsabsorbierende Holz- und Kalkputzoberflächen. Eine Fernwärme-Heizungsanlage versorgt die Fußbodenheizungen der Wohneinheiten, der Luftwechsel in den Bädern und Küchen erfolgt automatisiert durch feuchtegesteuerte Nachstromöffnungen in den Fenstern. Auf diese Weise konnte auf eine komplexe Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung verzichtet werden.
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Neben diesen technischen Finessen sollte das Wohnhaus allerdings nicht nur substanziell, sondern auch optisch überzeugen. Und das nicht trotz lokaler und wiederverwertbarer Materialien, sondern gerade deswegen. Auf den ersten Blick fällt da die Gestaltung der Nordfassade (in Richtung Straße) ins Auge. Rundzwei Architekten wählten als Gestaltungsmittel gewelltes Aluminiumblech in weißer Farbe. Das verleiht dem Objekt nicht nur einen edlen, modernen – und dennoch zeitlosen – Charakter, die Fassadenfront fügt sich auch zurückhaltend in das bestehende Altbau-Ensemble ein, ohne die eigene Bauzeit zu verleugnen. Es entsteht ein spannender Kontrast zwischen Alt und Neu, der niemals laut schreit oder sich unangenehm aufdrängt, sondern vielmehr die Möglichkeiten einer zeitgemäßen Architektursprache aufzeigt. Das Material ist zudem kostengünstig, hat einen hohen Recycling-Anteil und kann zu 100 Prozent wiederverwertet werden. Nachhaltiges Denken und wirtschaftliches Handeln lassen sich auf diese Weise optimal komplementieren.
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Um ein späteres Recycling zu erleichtern, wurden – bis auf Estrich und Putzflächen – alle Baumaterialien nur mechanisch befestigt. Anstelle der gängigen Absturzsicherungen aus Glas wurden die Balkonbrüstungen und Treppenläufe mittels einfacher Edelstahlnetze gesichert, der Fahrstuhl mit einer Streckmetallverkleidung versehen und leuchtend goldgelb lackiert. Während sich die symmetrisch und streng gerastert angelegte straßenseitige Fassadenfront dank perforierter Klappläden im gleichen Look als eine nahezu homogene, geschlossene Fläche präsentiert, öffnet sich das Wohnhaus zur gegenüberliegenden Seite in Richtung Hof. Eine durchlässige und locker arrangierte Gerüststruktur trägt und umschließt den in den Hof geschobenen Treppenkern mitsamt Fahrstuhl und ermöglicht die Ausbildung langgestreckter Balkone vor allen Wohnungen. Die Farbe Weiß bleibt auch hier dominant, wird aber durch einzelne, strahlend gelbe Farbakzente ergänzt. Bodentiefe Fenster holen das Sonnenlicht in den Wintermonaten tief in den Raum. Im Sommer hingegen bieten die Balkone Schutz vor zu viel Sonneneinstrahlung und Hitzeeintrag. Für einen zusätzlichen Kühlungseffekt in den Maisonette-Wohnungen sorgt die extensiv begrünte Dachfläche.
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Das Innere des “Eisbergs” ist ebenso puristisch und ästhetisch feinfühlig gestaltet wie die Außenhaut. Anstelle aufwändiger Bodenbeläge verfügen die Wohnungen über Böden aus Sichtestrich. Die Holzdecken aus Fichtenholz wurden ebenso roh und unverkleidet belassen. Lediglich weiß geölt, bilden sie das Pendant zu den hofseitig angeordneten bodentiefen Holz-Aluminium-Fenstern sowie den ebenso in Holz gerahmten „Sitzfenstern“ in Richtung Straße. Auch hier zeigt sich – ein zweiter Blick lohnt, denn gerade die hohe räumliche Qualität, die Schlichtheit der Materialwahl und die durchdachte Lenkung von Luft und Licht machen den “Eisberg” zu einem warmen und komfortablen Wohndomizil. Von Kälte ist hier nichts zu spüren. Diesen Neu-Berliner lohnt es sich eindeutig besser kennenzulernen!
“Für rundzwei stehen Recherche und Design als zwei zentrale Parameter für ein fundiert nachhaltiges und modernes Architekturverständnis, bei dem Raum, Materialität, Ressourcen, lokale Geschichte und natürliche Umgebung mit anspruchsvollem Design verbunden werden.”
rundzwei Architekten Berlin, Marc Dufour-Feronce & Andreas Reeg
Der Eisberg
Berlin-Tiergarten, Deutschland
Bauherr: Privat
Planung: rundzwei Architekten BDA , Berlin
Mitarbeiter: Luca Di Carlo, Marc Dufour-Feronce, Johann Göhler, Miriam Lopez, Andreas Reeg, Mathias Rühl
Statik: ifb frohloff staffa kühl ecker Beratende Ingenieure PartG mbB, Berlin
Grundstücksfläche: 898 m2
Bebaute Fläche: 566 m2
Bruttogeschossfläche: 1.740 m2
Nutzfläche Neu: 717 m2
Planungsbeginn: 08/2016
Bauzeit: 16 Monate
Fertigstellung: 06/2019
Baukosten: 2.1 Mio. €
Text: Linda Pezzei
Fotos: Gui Rebelo architecture photography