Mit, nicht gegen die Natur
"Bio be-greifen und zusammenkommen", so das zugrundeliegende Motto des neuen Besucherzentrums von Rapunzel Naturkost im schwäbischen Legau. Die Architekten von haascookzemmrich STUDIO2050 konzipierten für den deutschen Traditionshersteller und Anbieter für Bio-Lebensmittel eine begehbare Gebäudeskulptur rund um "Rapunzels Zopf", die von einem markanten Dachband gerahmt wird.
„Bio be-greifen und zusammenkommen“, so das zugrundeliegende Motto des neuen Besucherzentrums von Rapunzel Naturkost im schwäbischen Legau. Die Architekten von haascookzemmrich STUDIO2050 konzipierten für den deutschen Traditionshersteller und Anbieter für Bio-Lebensmittel eine begehbare Gebäudeskulptur rund um „Rapunzels Zopf“, die von einem markanten Dachband gerahmt wird.
Der Mensch lebt nicht vom (Bio-)Brot allein! Bereits 1974 hatte sich der aus dem deutschen Unterallgäu stammende Naturkosthersteller Rapunzel neben dem Credo „Bio“ Umweltschutz und nachhaltiges Handeln auf die Fahne geschrieben. Was mit einer Selbstversorger-Gemeinschaft auf einem Bauernhof samt kleinem Naturkostladen im bayerischen Augsburg begann, ist über die Jahre zu einem international tätigen Familienunternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitenden gewachsen. 2022 schließlich schien die Zeit reif für den nächsten Schritt: den Bau eines einladenden Besucherzentrums, in dem die Gäste neben einer kleinen Zeitreise durch das Rapunzel-Universum auch kulinarischer Genuss und eine märchenhaft inspirierte Umgebung erwarten.
Verantwortlich für das architektonische Konzept dieser Marken-Erlebniswelt: das Team von haascookzemmrich STUDIO2050 aus Stuttgart. Die begehbare Gebäudeskulptur sollte das Leitmotiv von Rapunzel „Wir machen Bio aus Liebe“ in Gestalt eines Hauses voller Entdeckungen erlebbar machen. Entstanden ist ein Ort mit abwechslungsreicher und emotionaler Wissensvermittlung, der die Gäste zum Verweilen und Mitmachen einlädt. So umfasst das Raumprogramm neben einem kleinen Museum auch eine Schaukaffeerösterei, eine Bio-Bäckerei, Gastronomieflächen, einen Bio-Markt und sogar ein Yoga- und Kochstudio sowie umfangreiche Außenanlagen.
Verpackt ist diese breite Angebotspalette in einer Art begehbaren Gebäudeskulptur, die in einem „Rapunzelturm“ gipfelt und von einem Märchengarten umgeben ist, der sich bis auf das Dach zieht und im Krähennest mit Rundumblick auf die Landschaft endet. Das alles überspannende Dach stülpt sich scheinbar schwebend voluminös und ausladend über ein transparent gehaltenes, von Glas dominiertes Sockelgeschoss. Allein im Bereich des Turmes scheint das Dachband der Anziehungskraft der Erde nicht hat standhalten können und berührt an dieser Stelle flüchtig den Boden. Gedeckt ist die Dachkonstruktion aus Holz mit engobierten Ziegeln – einem der wenigen Materialien, das nicht vor Ort bezogen werden konnte, da man für diesen speziellen Prozess der Farbgebung auf eine spezialisierte Manufaktur in der Schweiz zurückgreifen musste.
Dieses Zugeständnis hat sich gelohnt: die spielerisch versetzten Dachziegel tragen – jeder mit seiner eigenen Farbnuance – zum besonderen Charakter der Rapunzel-Welt bei und sorgen leuchtend im Sonnenschein, oder wie angezuckert im Winter für ein sich im Laufe der Jahreszeiten und Witterungslagen changierendes Erscheinungsbild. Aus der Ferne könnte man fast meinen, die Schindeln bestünden aus grob gehauenem Holz – flirrend verschwimmt die monumentale Fläche mit der umgebenden Naturlandschaft, nimmt sich dadurch bewusst und demütig zurück. Und weckt dabei doch Assoziationen an einen märchenhaften Burgturm, so als könnte eine moderne Rapunzel ihr langes Haar jederzeit aus einem der verschmitzt eingeschnittenen Fenstergauben hinab zur Erde werfen.
So wie Fiktion und Realität – wenn man es nur zulassen will – rund um das Gebäude zu verwachsen scheinen, so gehen nicht nur im Gebäudeinneren des Erdgeschosses die Natur und der Raum durch vielfältige Öffnungen und Austritte fließend ineinander über, auch in den oberen Geschossen sorgen die umlaufend platzierten „Gucklöcher“ für gezielte Ausblicke und eine natürliche Belichtung. Drei organisch geschwungene Gebäudeflügel strecken sich in den umgebenden Naturraum aus, wobei jeder Einzelne einem anderen Nutzungsschwerpunkt folgt. Im Herzen der Rapunzel-Welt befinden sich rund um „Rapunzels Zopf“ aufgefächert die öffentlichen Bereiche. Die 12 Tonnen schwere und rund 14,5 Meter hohe, dreifach gewendelte und freitragende Wangentreppe aus Holz scheint sich vom Weinkeller über die Ausstellung bis hinauf zur Dachterrasse in nahezu schwindelerregende Höhen zu schrauben – das Märchen von Rapunzels Turm zum Greifen nah.
Ein Tropenhaus, in dem man den Kaffeepflanzen beim Wachsen zusehen kann, bevor man der Röstung und Verarbeitung der Bohnen in der Schaurösterei auf den Grund geht; eine interaktive Ausstellung zum Anbau, Fairen Handel und der Herstellung sowie zur nachhaltigen Lebensweise; dazu liebevoll gestaltete Details, wie die kupfernen Regenfallrohre ineinandergreifender Töpfe – all das spiegelt den Grundsatz einer ökologischen Kreislaufwirtschaft wider: Ein Aspekt, dem sich auch die Architektur der Rapunzel-Welt verpflichtet. Um die Technik auf ein notwendiges Minimum reduzieren zu können, setzten die Planer auf den Einsatz natürlicher und nachwachsender Baustoffe wie Holz und Ton. Die Auswahl der Materialien, Farben und Beschichtungen basierte auf mineralischen und ökologischen Aspekten. Anstelle von Styropor wurde mit recyceltem Schaumglasschotter gedämmt.
Zu einem Haus, das mit und nicht gegen die Natur arbeitet, gehört auch der Einsatz von heimischen Hölzern oder Schotter aus dem benachbarten Kieswerk. Insgesamt konnte so auf eine breite Palette an lokalen Materialien zurückgegriffen werden, was eine erhebliche Vermeidung langer Transportwege und Emissionen mit sich brachte. Dazu kommen eine natürliche Belichtung, Belüftung und Verschattung sowie der Anschluss an das bestehende Nahwärmenetz und die solare Stromgewinnung von Rapunzel. Ausgeführt wurden die Arbeiten von lokalen Handwerksbetrieben – eine Geste des Respekts gegenüber der hiesigen Handwerkskunst, aber auch ein Motor der Identifikation der neuen Nachbarn mit diesem für alle offenen Haus.
Ein besonderes Merkmal des Besucherzentrums liegt in der Vielschichtigkeit der Erlebnisräume begründet. Dabei führen alle Wege in das Zentrum des Gebäudes, wo die Gäste empfangen und entsprechend weitergeleitet werden. Großzügig verglaste Innentrennwände gewähren Einblicke in die Kaffeerösterei und in die Bäckerei. Die Wendeltreppe verbindet die untere Ebene mit den darüberliegenden Galerien, die den Vorbereich der Ausstellung sowie die Büroräumlichkeiten umfassen. Im zweiten Obergeschoss befinden sich die Kochwerkstatt und ein Seminar- und Yogaraum, der auch als Konferenzraum genutzt werden kann. Die interaktive Ausstellung im ersten Obergeschoss involviert die vom Atelier Markgraph konzipierte Inszenierung „Vom Teller bis zurück aufs Feld“ auf ca. 600 Quadratmetern Fläche. In raumgreifenden Themeneinheiten wie Küche, Labor oder Anbaufeldern erfolgt neben dem Blick auf das Engagement von Rapunzel auch der sprichwörtliche Blick über den Tellerrand hinaus. Vielleicht entdeckt der eine oder andere beim Besuch des Rapunzel-Turms aber auch seine kindliche Seite wieder und damit den Glauben an die Möglichkeit, eine nachhaltige Welt für alle zu schaffen.
[See image gallery at www.architektur-online.com]
Rapunzel Besucherzentrum
Legau, Deutschland
Bauherr: Rapunzel Naturkost GmbH
Planung: haascookzemmrich STUDIO2050
Mitarbeiter: Sinan Tiryaki und Lisa Ruiu (Projektleiter), Lena Lang, Yohhei Kawasaki, Ariane Prevedel, Katharina Hoppenstedt, Elisabeth Wiest, Xun Li, Felix Wolf, Sabrina Carrico
Statik: Ecoplan Ing. GmbH
BGF: 7.560 m2
Planungsbeginn: 04/2018
Bauzeit: 3 Jahre
Fertigstellung: 10/2022